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die wahrheitDas Schweigen der Leichname

Kommentar von Jenni Zylka

Wer sagt, dass Autohupen nerven? Als meine Freundin aus Marienfelde neulich anrief, konnte ich nur jedes dritte Wort verstehen...

..denn das Schaf vom Nachbarbauernhof blökte so laut. Alle sieben Sekunden machte es "Mööööäähh!!!". Zuerst dachte ich, meine Freundin nestele nebenbei gedankenverloren an einem dieser Kinderspielzeuge, kleine Döschen, die man umdreht, und dann kommt ein Landtiergeräusch, damit Stadtkinder so was auch mal kennenlernen. Aber der Sound war echt.

Was hat es denn, fragte ich in einer Blökpause, muss es auf die Schlachtbank? Meine Freundin kennt sich mit Schafen aus, ist sie doch neben einem Bauernhof aufgewachsen und kann Eier von freilaufenden Hühnern allein durch Abtasten von Gefängnishühnereiern unterscheiden. Aber in diesem Fall war sie ratlos. Es habe noch nie ein so lautes Schaf auf diesem Bauernhof gegeben, sagte sie, und schließlich gehöre Marienfelde zu Berlin und nicht zu Sylt, wo die Deichlämmer einem anscheinend standardmäßig die Nachtruhe rauben, weswegen das Sylter Nachtleben extrem mit Drogen versetzt sei: Der Krach der Lämmer treibe einen zum Wahnsinn, und man müsse dem mit den entsprechenden Beruhigungsmitteln entgegenwirken.

Mir fiel ein, dass ich mal eine Tafel vor einem Schlachter gesehen habe, auf der in ankündigungstafeltypischer Schreibschrift "Heute frischer Leichnam" zu lesen war, ein paar Sekunden später entzifferte ich "Heute frisches Deichlamm", und ich wundere mich bis heute, wieso das SZ-Magazin das noch nicht in sein "gemischtes Doppel" aufgenommen hat.

Meine Freundin behauptet jedenfalls, sie könne ihre Terrasse nicht mehr genießen, seit das Schaf seine Depressionen auslebe, und ich solle gar nicht erst mit Kreuzberg und Hauptverkehrsader und Schlafzimmer nach vorne raus kommen: So ein Schaf mache einen fertig. Aber das ist doch bestimmt ein Bauernhof mit Hofladen für die Touristen, versuchte ich es erneut, wie wäre es denn, wenn du einfach 27 Kilo Lammbraten bestellst? Dann kriege ich bestimmt den alten Hammel, sagte meine Freundin, den packen die dick in Folie ein und behaupten, das sei Milchlämmchen.

Der Hammel steht auf einer Wiese, die etwas von der Terrasse meiner Freundin entfernt liegt, und ist dafür bekannt, dass er Besucherkindern, die ihre Patschhändchen zwischen den Elektrozaun stecken, gern mal die Hörner entgegenstemmt. Es floß sogar schon Blut, und Ökoeltern, die aus Esogründen keine Tetanusimpfung vornehmen ließen, mussten im Sauseschritt zum Kinderarzt, um sie nachzuholen.

Wann geht das Terrorschaf denn ins Bett, frage ich. Nach mir, sagte meine Freundin. Ich lud sie dann ein. Zu einem geruhsamen Abend in der Stadt, vielleicht mit Lektüre, "Böse Schafe" von Katja Lange-Müller. Doch abends konnte sie vor Stille nicht schlafen, und so gingen wir in einen Club, in dem ein Freund Platten auflegt. Als wir ankamen, kippte er sich einen doppelten Wodka hinter die Binde. Gerade habe ihn so ein dämlicher Twen gefragt, ob er nicht mal "Das Topmodel" von Kraftwerk spielen könne, erklärte er mir. Die jungen Leute sind alle dumme Hühner, sagte ich, um in der Bauernhofsemantik zu bleiben.

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