die wahrheit: Glückliche Gene
Wie ein Arzt seinen Patienten ins Unglück stürzen muss, um ihm das Leben zu retten.
Sebastian Hold ist der glücklichste Mensch der Welt. Der Wuppertaler Postbeamte könnte der Sonnenschein seines ganzen Bezirks sein. Aber die Kollegen verachten ihn - weil sie wissen, dass sie nie so glücklich sein werden wie er.
Ein seltener Gendefekt sorgt für ein massives Ungleichgewicht in Holds Hormonhaushalt. Dank einer wahren Endorphinflut herrscht in seinem Gehirn immer gute Stimmung. "Neuronenfasching" nennt das sein Arzt, Prof. Dr. Herbert Kress, salopp und schiebt dann doch die medizinische Erklärung nach: "Herr Hold leidet am äußerst seltenen Feelgood-Syndrom, bei dem übermäßig viel an endogenem Morphin, einem vom Körper selbst produzierten Opioid, erzeugt wird."
Mr. Feelgood nennen ihn daher seine Kollegen abschätzig. Weil er schon morgens euphorisch in die Postfiliale rauscht und ihnen ihre eigene schlechte Laune vermiest. Auch die Kunden halten seine überschwängliche Art für morbiden Zynismus, wie ihn selbstverständlich nur Postbeamte entwickeln können. Sie murren und beschimpfen ihn, manchmal schreien sie und schlagen mit ihren Fäuste auf den Tresen. Hold erträgt das alles mit einem milden Lächeln. Er kann gar nicht anders.
Doch das kollektive Unglück um ihn herum droht ihn langsam zu erdrücken. Glück scheint Unglück anzuziehen. Sebastian Hold ist der letzte noch lebende der drei bisher diagnostizierten Feelgood-Patienten. Den beiden anderen, einer Brasilianerin und einem Russen, widerfuhren tragische Unglücksfälle. Die genauen Umstände sind ungeklärt. Wahrscheinlich wurde ihnen ihre gute Laune zum Verhängnis.
Auch diese Schicksale haben seinen Arzt, Prof. Dr. Kress, motiviert, weiter nach dem ursächlichen Glücksgen zu suchen. Er will es isolieren, um daraus eine Gentherapie zu entwickeln. Diese könnte Hold von den Qualen des immerwährenden Glücks befreien und ihm womöglich das Leben retten. "Ich sehe ja, welcher Gefahr er ausgesetzt ist: Menschen reagieren heute geradezu allergisch auf gute Laune. Manchmal möchte ich ihm auch selbst eine runterhauen, wenn er beim Einführen der Gehirnsonden wieder so albern kichert", gibt er zu.
Holds Auftreten wirkt vor allem auf Jugendliche so befremdlich, dass er schon mehrfach auf der Straße von ihnen angegriffen und geschlagen wurde. Den Passanten bot sich ein groteskes Schauspiel: "Dein dummes Grinsen werd ich dir aus der Fresse prügeln!", haben sie geschrien und auf den schmächtigen Hold eingedroschen. Doch das Lachen verging nicht. Die Rabauken johlten aus vollem Hals, konnten aber das Gelächter des geschundenen Hold nicht übertönen.
Auch er selbst erkennt seine missliche Lage, ist aber unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. "Ich bin ein Außenseiter", sagt er mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er gerade im Lotto gewonnen. "In dieser Welt ist kein Platz mehr für glückliche Menschen. Hier bleiben nur noch Hass und Neid und Gewalt. Manchmal wünschte ich, ich wäre wie alle anderen, einfach normal."
Doch normal heißt heute alles andere als glücklich. Die Welt scheint so verkehrt, dass das Ideal von einem erfüllten Leben für die meisten Menschen in unerreichbare Ferne gerückt ist. Missgunst prägt den Alltag, der Nachbar ist der Feind. Man gönnt seinem Nächsten nicht einen Funken Freude. Hold ist der Antichrist der modernen Gesellschaft. Das ist die traurige Wahrheit über den glücklichsten Mann der Welt. Dr. Kress wird weiter suchen nach dem genetischen Code des Glücks und an einer Therapie arbeiten. Hoffentlich ist es für Sebastian Hold noch nicht zu spät. Wünschen wir ihm also "Gutes Gelingen!" und lieber nicht "Viel Glück!".
MICHAEL GÜCKEL
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