die wahrheit: Neues aus Neuseeland: das erste Kreuzfahrtschiff des Jahres
Heute Morgen um Punkt sechs Uhr schob sich das Grauen in mein Blickfeld. Ich war früher als sonst vor die Tür getreten, um den Hund pinkeln zu lassen...
Heute Morgen um Punkt sechs Uhr schob sich das Grauen in mein Blickfeld. Ich war früher als sonst vor die Tür getreten, um den Hund pinkeln zu lassen. Während ich mir den Schlaf aus den Augen rieb und Richtung Einfahrt tapste, um die Zeitung aufzuheben, die der Hund hätte holen sollen, wanderte mein Blick abwesend über das Panorama von Lyttelton. Unser Haus steht an einem Hang, zu dessen Füßen der Hafen liegt, rechts und links gesäumt von Fels und grünen Hügeln. Es ist ein schöner Blick, vor allem nachts, wenn man die Container und Kräne nicht sieht, aber alles dort unten funkelt und blinkt.
In der klaren Morgensonne dagegen bleibt nichts Schreckliches verborgen. So nahm ich erst schlaftrunken, dann schlagartig hellwach wahr, dass ein weißes Ungetüm von gigantischem Ausmaß seine Schnauze von links her in den Hafen schob - so klammheimlich und gleichzeitig unausweichlich wie ein Nebelschwaden in einem Stephen-King-Film, und der bringt bekanntlich nichts Gutes.
Alles blieb ruhig, die Sonne schien weiter und die Vögel zwitscherten, aber ich wusste, dass nichts mehr so sein würde wie vorher. Der unschuldige Winterschlaf von Lyttelton war ab sofort vorbei: Das erste Kreuzfahrtschiff der Saison hatte angelegt. Und ich muss wohl oder übel zugeben: Es sieht fantastisch aus.
Alles funkelt in Gold und blendendem Weiß an Deck, strahlender als das Gebiss eines amerikanischen "Glücksrad"-Moderatoren. Und so riesig! Ich habe versucht, die Kajütenfenster zu zählen - denn seit Stunden starre ich fasziniert auf das schwimmende Hotel, statt zu arbeiten -, aber schließlich aufgegeben. Unvorstellbar, was sich hinter der polierten Fassade abspielt. Ein Ameisenhaufen, in nagelneue Tupperware verpackt. Ein fremdes Biotop - unerreichbar und unheimlich.
Die "Dawn Princess", so entnahm ich heute der Tageszeitung, die ebenso aufgeschreckt wurde wie ich, hat mehr als 2.000 temporäre Bewohner. Dazu kommen 800 Angestellte, denn die Gäste müssen verwöhnt werden. "Das Schiff begann seine Reise in Alaska und landet schließlich in Australien", informiert mich The Press. 300 Dollar gebe jeder Passagier beim Landgang aus. Die Horden werden vom Schiff auf Busse verladen und zur Stadtbesichtigung gekarrt. Vereinzelte Exemplare sondern sich ab und schwirren durchs Dorf, in Pastell und riesige Sonnenbrillen gehüllt.
Die Besatzungen der rostigen Kähne und Eisbrecher, die sonst in Lyttelton andocken, sind meist philippinisch oder russisch. In kleinen Grüppchen stehen die Seeleute vor dem Supermarkt und zählen, ob ihre Dollar für Wodka reichen. Etwas verloren schauen sie aus in ihren Kunstlederjacken, aber zumindest in der Apotheke können sie sich wie daheim fühlen: Da hängt ein Zettel in kyrillischer Schrift neben dem Tresen und übersetzt Lebenswichtiges wie "Ich brauche Aspirin" oder "Kondome bitte". Vor ein paar Jahren lag eine russische Besatzung monatelang im Ort fest, weil die Reederei pleiteging und niemanden bezahlen konnte. So weit wird es mit der "Dawn Princess" hoffentlich nicht kommen. Um sechs Uhr ist der Spuk vorbei, dann legt sie wieder ab. Es werden noch 59 Kreuzfahrtschiffe kommen.
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