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die wahrheitMehr Gespür fürs Elendtier!

Das kürzlich zum Tier des Jahres gewählte Geschöpf braucht mehr Respekt.

Das arme Elendtier wird gern mit Spottversen bedacht ("Die stärksten Kritiker …") und wegen seine mangelnden Schönheit oder seiner vermeintlichen Fallsucht verunglimpft (Wahrheit vom 18. 2. und 4. 3. 2009).

Dabei hätte es eines der besten Haustiere werden können, denn wie Felszeichnungen der Jungsteinzeit belegen, wurde es schon vor dem Rentier vom Menschen gezähmt. Im Gegensatz zu anderen Hirscharten lässt sich das Elendtier nämlich leicht zähmen. Das junge Tier gilt als intelligenter und anpassungsfähiger Zögling, so dass es Tierfreunde im Internet sogar wie einen riesigen, freundlichen, treuen Hund beschreiben. Doch warum konnte gerade der devote Kläffer dem majestätischen Elendtier den Rang als Lieblingstier ablaufen?

Denn das Elend gilt seit Steinzeiten als geschicktes Reit- und Packtier, das auch schwierigstes Gelände willig durchquert, ob es sich nun um Sumpf oder Urwald handelt. Trotzdem wird das Elendtier heutzutage fast nur noch in Sibirien als Haustier gehalten, lediglich in Schweden und Russland ist es auf vereinzelten Milchfarmen zu finden. Doch insgesamt ist der Mensch an der Domestizierung des Elendtiers gescheitert. Das führen Fachleute auf die geringe physische Belastbarkeit zurück. Da es in der Wildnis das Leben in kleinen Gruppen bevorzugt, fehlt ihm der Rudelinstinkt des Hundes, und es zeichnet sich durch eine Sensibilität aus, die man dem massigen Tier gar nicht zugetraut hätte.

Seine Empfindsamkeit gereicht ihm beim Menschen auf den Milchfarmen sehr zum Nachteil, denn bei der geringsten Störung bleiben die Eimer der Elendtiermelker leer. Das missfällt selbstverständlich dem leistungsorientierten Menschen. Wenn dieser dann auch noch gewahr wird, dass das empfindliche Elendtier mal wieder unter "Wärmestress" leidet, kostet das zusätzliche Sympathien, zumal der besagte Stress bereits bei Temperaturen über 10 Grad Celsius einsetzt. Mit anderen Worten, das Elendtier gilt als stinkfaul und zickig. Dazu verhält sich das männliche Elendtier in der Brunft oft wunderlich, mitunter sogar merkwürdig streitlustig.

Da das Elendtier bei Gefahr fast nie flüchtet, sondern sich vehement zur Wehr setzt, werden in Alaska pro Jahr mehr Menschen von ihm getötet als vom Bären. Noch nicht einmal das aber verschafft ihm den verdienten Respekt bei uns. Arbeitsverweigerung bei großer Hitze und eigenwilliges Wesen sollten ebenfalls Sympathie bei uns wecken. Doch will das das Tier überhaupt? Was hat es denn als verhätscheltes Haustier bei uns zu gewinnen?

Vermutlich müsste es bei demütigenden Wettkampfbelustigungen im Kreis um die Wette rennen, würde sich in sterilen Fleischfarmen drängeln und in Sibirien mit kalten Händen ausgemolken werden. Ist das Elendtier wirklich ein "einfältiges, dummes und furchtsames Tier" wie Zedlers Universallexikon 1732 tönt?

Das Elendtier würde dazu die stark überhängende Oberlippe, den sogenannten Muffel, hochziehen, geräuschvoll eine maulvoll Laub zu sich nehmen und schweigen.

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