die wahrheit: Der heilige Baumstumpf
Nur noch ein Wunder kann Irland aus der wirtschaftlichen Misere helfen. Aber das ist glücklicherweise schon auf dem Weg - wie immer in Krisenzeiten. Als die Iren...
Nur noch ein Wunder kann Irland aus der wirtschaftlichen Misere helfen. Aber das ist glücklicherweise schon auf dem Weg - wie immer in Krisenzeiten. Als die Iren Mitte der Achtzigerjahre von Arbeitslosigkeit und Inflation gebeutelt wurden, während sich die Politiker die Taschen mit Bestechungsgeldern vollstopften, tanzten die Marienstatuen einen Sommer lang im ganzen Land. Es waren nicht nur gläubige Katholiken, die das Schauspiel beobachteten, sondern auch Atheisten, Kommunisten, Hells Angels - und Mary Murray.
Ihr begegneten bei dieser Gelegenheit auch Padre Pio, Papst Pius XII. und die Heilige Theresa. Acht Jahre später bekam Murray ihr eigenes Wunder: Ihre Marienstatue aus Gips begann, blutige Tränen zu weinen. Vor lauter Schreck überschrieb sie der Gipsjungfrau ihr Haus. Die portugiesischen Hersteller der Statue lachten sich scheckig, denn sie hatten einen rötlichen Klebstoff für die Augen verwendet, der bei Hitze schmolz. Das wollte freilich niemand hören. Hunderte Pilger kamen täglich in das Haus, das nun dem Gipsklumpen gehörte.
Jetzt geht es wieder um Maria, die offenbar wundertauglicher ist als der Rest der göttlichen Bagage. In Rathkeale in der westirischen Grafschaft Limerick ließ die Stadtverwaltung ein paar uralte Bäume neben einer Kirche fällen, weil sie auf die benachbarte Schule zu stürzen drohten. Das scherte zunächst niemanden, denn das Fällen von Bäumen sind die Iren gewöhnt, seit die englischen Besatzer die irischen Wälder für ihre Armada abholzten.
Aber als die Stadtverwaltung auch noch den Baumstumpf ausgraben wollte, bildete sich eine Protestbewegung. Der listige Ladenbesitzer Séamus Hogan hatte nämlich festgestellt, dass der Baumstumpf wie die Jungfrau Maria aussieht - ein Wunder! Er sammelte tausende von Unterschriften, um die göttliche Erscheinung zu retten. "Die Leute kommen aus dem ganzen Land", sagte Hogan, "junge und alte, schwarze und weiße, Protestanten und Katholiken, um ein wenig am Baumstumpf zu beten." Und um ein wenig in seinem Laden einzukaufen. Sie haben dem Baumstumpf ein Kreuz an einer blauen Kette umgehängt, davor steht ein kleiner Altar mit einem ewigen Licht, einer Rose und Weihwasser in einer Plastikflasche in Form der heiligen Jungfrau.
Der katholischen Kirche ist die Sache suspekt, weil sie keine Kontrolle darüber hat. Der örtliche Pfarrer Willie Russell sagte: "Da gibt es nichts. Es ist bloß ein Baumstumpf. Man kann keinen Baum anbeten." Nein? Und was ist mit den ganzen Kreuzen und Madonnenschnitzereien, die früher auch mal Bäume waren?
Hogan hat die Sache aber nicht richtig bedacht. Hätte er nicht die Jungfrau Maria in dem Baumstumpf wiedererkannt, sondern Michael Jackson, wäre das beschauliche Rathkeale im Handumdrehen zum berühmtesten Wallfahrtsort der Welt geworden und hätte ausgesorgt. Andererseits ist es allemal erfolgversprechender, einen Baumstumpf um einen Wirtschaftsaufschwung zu bitten, als sich auf die korrupte irische Regierung zu verlassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen