die wahrheit: Die Fünf-Promille-Hürde
Wahlbetrunk im Wahllokal. Wer nüchtern wählt, ist selbst schuld. Hat sich mal jemand die Wahlplakate genauer angesehen, diese Riesentrümmer an den Straßen?
Wissen Sie überhaupt, dass in drei Wochen eine Bundestagswahl stattfindet? Nicht mitgekriegt? Nur im Biergarten gesessen? Wo keine Wahlplakate hängen dürfen? Weil die Trinker sonst vergrault werden?
"Es ist Wahlkampf, die wildeste, intensivste Zeit der Demokratie", schreibt der aktuelle Spiegel, und die Welt behauptete: "Ab 1. September wird die Wahl wieder spannend." Wieder? Wahl?
Was unsere Postenschiebervereine dem Volke heuer bieten, spottet jeder Beschreibung. "Ich will einfach mein Herz zu Ihnen sprechen lassen", plästert Herr zu Guttenberg ans Publikum hin, und Frau Merkel trägt vor: "Die Wahl ist wichtig, weil jede Bundestagswahl wichtig ist."
Wenn man sich die Kanzlerin so anschaut, scheinen wir bald vor der Entscheidung zu stehen: Untergang Deutschlands oder Kaiserinnenkrönung Merkels. Die laut dem US-Magazin Forbes "mächtigste Frau der Welt" führt Wahlkampf, wie Katzen ins Schwimmbad gehen. Also gar nicht. Würde man die Dame bei ihrem Mittagsschläfchen auf der Wiese vor dem Reichstag filmen, wäre das ergiebiger als ein Fernsehinterview mit ihr.
Dass kein Mensch einen Blick auf die Plakate werfen will, ist allzu verständlich. Tut mans trotzdem, tränen die Augen, und der Kopf schmerzt. Die Beipackzettel von Kopfschmerztabletten sind politischer als diese Sprüche. CDU: "Wir haben die Kraft für die Sicherheit unseres Landes." Aha. Stark. Kraft für Sicherheit. Das macht Freude. Oder Kraft "für starke Familien".
Steht da. Sonst nichts. "Wir haben die Kraft für starke Familien." Könnte man genausogut hinpinseln: "Wir haben Lust aufs Familienministerium und auf Dienstwagen." Und neben Merkels Konterfei liest man lediglich: "Wir haben die Kraft." Pluralis majestatis. Wir = Merkel. Man nennt es Demokratie.
Die SPD plakatiert: "Unser Land kann mehr." Mehr was? Mehr Arbeitslose schaffen? Mehr Geld drucken? Mehr Kriege führen? Mehr Wahlkampfplakate ertragen? Bestimmt. Denn die Grünen deklamieren: "Aus der Krise hilft nur Grün" - und schreien herum: "Mehr E-Wagen!" Nicht mehr Demokratie wagen. Mehr E-Wagen! Mehr Einkaufswagen! Das sähe man nach der Wahl zu gern: Millionen Bundesbürger schieben grünlackierte Einkaufswagen durch die Fußgängerzonen des Landes und skandieren: "Wir sind das Volk! Wir kaufen ein! Die Krise packt ein!"
Und die FDP? Dr. Westerwelle zeigt sich in glänzender Stimmung: "Deutschland kann es besser." Bessere Bildung zum Beispiel? Wenns zusammen mit den Gelben wieder aufwärts geht, ist auch wieder mehr Schotter für den Kauf von noch mehr Dissertationen da? Und welcher Professor hat den Westerwelle eigentlich promoviert?
Was also tun? Wen und vor allem: Wie wählen? Im Nürnberger Kunst- & Kurhaus Katana wurde eine löbliche, ja Rettung versprechende Initiative ins Leben gerufen, die auch der grandiose Komiker Matthias Egersdörfer schwer begrüßt: "Betrunken wählen". "Das schale Ritual der Stimmabgabe wird erneuert und gereinigt durch deinen volltrunkenen selbstlosen Urnengang", heißt es auf der Website www.betrunken-waehlen.de.
"Stolz und betrunken befreist du dich von der Herrschaft der politischen Klasse. Der Rausch allein vermag dich von der Schuld des Kollektivs zu befreien. Wir glauben, dass allein der Suff die Wahlkabine zum Altar der Aufrichtigkeit gerinnen lassen kann."
Zwar konstatieren die Initiatoren in einem Video: "So weit hat es mit Deutschland kommen müssen, dass man jetzt schon betrunken wählen muss", und erlaubt darf die Frage sein, ob sich eine Formulierung wie die "zum Altar geronnene Wahlkabine" der zügigen Zufuhr eines Tucher-Coolkeg-Fasses verdankt; doch wir wollen den "Beitrag zur affektiv-reflexiven Demokratieartikulation" nach Kräften unterstützen, indem wir bereits am nächsten Sonntag ab zwölf Uhr im Katana an der "öffentlichen Probe, Betrunken wählen' mit alles!" engagiert partizipieren.
Am 27. September brummen wir dann um elf Uhr morgens in den Biergarten, bleiben stramm hocken, stemmen zehn bis zwanzig Seidla, und um fünf, wenn die Synapsen Pogo tanzen und fast alle Lichter ausgeschossen sind, marschieren wir zum Altar der Aufrichtigkeit und zünden ein Kerzlein und den Wahlzettel an. Ja, "so macht Demokratie Spaß". Und dito "gemeinsames betrunkenes Briefwählen", das möchten wir nicht vergessen, "ist ein Riesenspaß und echtes Erlebnis für Exemplare der Art zoon politikon". Heißa!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus