die wahrheit: Geld ist nicht alles
Wer braucht schon Kies, Knete, Kohle? Eine Abrechnung. Jeden Monat das gleiche Schauspiel: Millionen Menschen betrachten ihre Kontoauszüge.
Millionen Menschen sind geknickt. "Was? Wieder nur so wenig? Für einen Monat malochen nur 600 Euro?" Dabei haben die Bedauernswerten nicht ganz recht. Denn sie vergessen, dass sie eigentlich viel mehr erhalten - eben nicht nur Geld. Sondern auch ein warmes Plätzchen, Geborgenheit, das Gefühl, etwas wert zu sein, Toilettenmitbenutzung, ein Namensschild an der Tür und vieles mehr.
Selbstverständlich bekommen nicht alle gleich viel Geld. So ist das Leben. Die einen kriegen Aktienpakete, die anderen Fresspakete. Die einen haben einen Firmenwagen, die anderen ein Feuerzeug mit Firmenlogo. Aber ist all das nichts? Ist Geld alles? "Wer Geld benötigt, um glücklich zu werden, dessen Suche nach Glück wird unendlich sein", wusste schon Bob Marley und nahm Groupies, Joints und ewige Unsterblichkeit als Gimmicks gern entgegen.
Bezieht man also sämtliche nichtmonetären Gegenleistungen mit ein, erscheinen viele Arbeitsverhältnisse in einem anderen Licht. Zum Beispiel das immer wieder zu Unrecht verdammte Praktikum. "Vergütung leider keine", heißt es hier oft. Dabei bekommen Praktikanten jede Menge nebenher: Praxisluft, Kontakte, ein Arbeitsplatz mit Aussicht auf den Park oder auf ein Volontariat, ein Dankeschön hier, ein Snickers da, und der eine oder andere Superlativ im Arbeitszeugnis ist auch noch mit drin.
Das klingt doch gar nicht schlecht. Das finden die jungen Leute meist auch und stürzen sich in die Arbeit: Tagsüber sammeln sie Praxiserfahrungen, nachts Pfandflaschen, wenn das Geld wieder knapp wird.
Wer mit symbolischen Gütern wie Zeugnissen, Zertifikaten und Prädikaten wenig anfangen kann, bekommt handfeste "Extras". Und zwar das, was sie selbst produzieren, so wie einst die Bergarbeiter in Deputatkohle teilentlohnt wurden - ein Trick, der auch der marxschen "Entfremdung von der eigenen Arbeit" bestens entgegenwirkt. Deshalb geht es etwa den Akkordarbeitern in der Fleischindustrie besser, als mancher Gesellschaftskritiker glaubt.
Zwar kriegen die Fleischverarbeiter selten mehr als vier Euro die Stunde, aber dafür dürfen sie einen Eimer Innereien pro Abend mit nach Hause nehmen, bar auf die Kralle. Davon sollten sich die ewig nörgelnden Assistenzärzte eine Scheibe abschneiden, einfach hier und da mal eine Nabelschnur mitgehen lassen und sich daheim in die Pfanne hauen.
Vergessen sollten wir auch nicht die Geistesarbeiter, die Intellektuellen. Zum Beispiel die Legionen von Lyrikern, die nicht nur Hartz IV bekommen, sondern auch jede Menge wohlwollenden Applaus oder sogar Einträge in Literaturlexika.
Wer denkt da noch an Kontoauszüge? Ganz sicher nicht die Literaturkritiker, die zwar mit einem lumpigen Zeilenhonorar entlohnt werden, dafür aber auch dickleibige Rezensionsexemplare erhalten, mit denen sich im bitterkalten Winter gut heizen lässt - jetzt, da der Russe der Welt den Gashahn zudreht.
Und denken wir auch an die Selbstmordattentäter. Die für jeden Anschlag nicht nur ein kleines Honorar, sondern auch eine Eintrittskarte ins Paradies bekommen. Wer würde da noch nörgeln?
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