die wahrheit: Menschliche Steine
Zu Besuch bei dem Geologie-Pfarrer Hartmut Gecker.
Ein Gespenst geht um in der modernen Theologie, das Gespenst des Satzes: "Auch Steine haben eine Seele!" Seit der Pfarrer und Geologe Hartmut Gecker seine These erstmals von der Kanzel der Dorfkirche im nordhessischen Netra verkündete, wenig später an die Tür des Fritzlarer Doms sprühte und bald darauf im Gemeindebrief die Reihe "Wenn Steine zu dir sprechen" begann, ist die Lutherisch-Reformierte Kirche Kurhessen in Aufruhr. Und nicht nur sie, denn die Diskussion hat auf andere evangelische Landeskirchen übergegriffen und sogar die Katholiken erreicht, wie das päpstliche Rundschreiben "De animo in lapide" zeigt.
"Die Steine sind Menschen wie wir!", behauptet Gecker, der 23 Jahre als Steinschleifer arbeitete, bevor er Theologie und Geologie studierte. "Sie sehen nur anders aus. Es kommt auf die inneren Werte an!"
Dass von Seele zu reden in unserer Gesellschaft anstößig ist, ist ihm bewusst. "Schuld", erläutert Gecker und zieht einen Stein aus der Hosentasche, "ist der französische Philosoph des 17. Jahrhunderts, Roland Descartes. Seine Lehre, dass der Mensch ein seelenloser Automat sei, prägt unser Verhältnis zu uns und der Welt bis heute. Und leider auch das zum Stein!"
Den Einwand, dass Descartes im Grunde an die Bibel anknüpfe, die eine menschliche Seele nicht kennt, lässt Gecker so nicht gelten: "Die Bibel kennt nicht nur keine menschliche Seele, sondern auch keine steinliche! Das ist doch der Skandal!", ruft er und streichelt den Stein. "Wenigstens hat die Kirche später den Menschen eine Seele zugebilligt. Dann, im 19. Jahrhundert, bewies Arnold Schopenhauer, dass auch der Pudel eine Seele hat, genau wie Mensch und Gott. Heute wissen wir dank der Naturschutzbewegung, dass auch Bäume beseelt sind. Jetzt ist es Zeit, die Steine als seelenvolle Lebewesen anzuerkennen!" Und zwar, so Gecker, alle Steine, nicht nur Heilsteine und Edelsteine, sondern auch Feldsteine, Hinkelsteine, Nierensteine und den Kieselstein im Schuh, denn sie alle seien von Gott geschaffen.
"Wir wissen nicht, woraus eine Seele besteht", räumt der ledige 48-Jährige ein und drückt den Stein ans Herz. "Sicher ist aber, dass wir unsere Beziehung zum Stein radikal ändern müssen, sie auf eine moralische Grundlage stellen müssen. Ich habe als Steinschleifer zutiefst den Schmerz empfunden, den ich den unschuldigen Wesen zufügte. Am schlimmsten sind natürlich die Steinmetze, die dem wehrlosen Geschöpf mit Hammer, Keil und Meißel zu Leibe rücken. Möchten Sie, dass man mit dem Meißel an Ihnen herumhämmert?"
Gecker, der einen Lehrauftrag an der Universität Kassel-Waldeck hat, erregt sich: "Bildhauer sind Folterknechte, Steinbrüche Folterkeller! Ich wohne seit Langem nicht mehr im Pfarrhaus, diesem Stein-KZ, sondern zelte hier im Küchengarten. Und wissen Sie was? Ich esse auch keine Steine mehr! Steine essen ist Mord!", bricht es aus ihm hervor.
Gecker schnauft, schaltet einen Gang zurück. "Das Grundübel unserer Gesellschaft ist, dass der Mensch im Mittelpunkt steht", erklärt er und betont, dass er die Pfarre in Netra für Mensch und Stein übernahm. Als Begründer der Geologischen Theologie fordert er mehr Respekt vor unseren steinernen Brüdern: "Die Religionen haben hier noch viel Arbeit vor sich. Gewiss, der Islam betet den Stein der Kaaba an. Aber Steine zur Steinigung verwenden, ist furchtbar! Die armen Steine!"
Gecker holt tief Luft. "Und Jesus? Er sagt sogar: ,Werfe den ersten Stein!' Ein Aufruf zum Steinewegwerfen, unglaublich! Klar, dass Jesus auf einem Esel in Jerusalem einreitet, statt einen Basaltklops vor sich herzurollen. Eine Schande auch, dass im Hindu- und Buddhismus die Wiedergeburt als Stein ganz unten angesiedelt ist. Die Volksmeinung ist nicht besser. Da hat man ein ,Herz aus Stein' oder ,geht einen steinigen Weg' und lästert über die ach so primitive ,Steinzeit'. Das ist pure Steinverachtung", seufzt Gecker und steckt sich den Stein in den Mund.
"Ws wr brchn, sch n Rnssssch!", Gecker nimmt den Stein aus dem Mund und schiebt ihn sich in die Hose, "ist eine Renaissance der Megalithkultur. Die Steine sind die wahren Herren der Welt. Man muss bloß einem Stein in die Augen schauen, um zu wissen, dass es keine besseren, lieberen Kreaturen gibt. Ich sage darum: Auf Steine treten ist Sünde, Steine beschimpfen ist Gewalt!"
"Steine sind das Salz der Erde", fährt Hartmut Gecker fort und reibt den Stein. "Während wir alles Mögliche begrübeln, ist der Stein einfach da und will nicht mehr, als da zu sein. Um Tobias von Aquin weiterzudenken: Der Stein lebt Gott unmittelbar!", ruft Gecker verzückt, atmet tief aus und bedauert: "Schade, dass ich nur ein Mensch geworden bin. Viel lieber wäre ich ein Stein!" - "Oder wenigstens ein Mensch aus Stein?" - "Sie haben mich begriffen", sagt Gecker und langt in seine Hose. "Nehmen Sie diesen Stein!" - "Nein, Steine sind doch Menschen wie wir. Und Menschen verschenken ist unsteingemäß!" Damit verabschiede ich mich, wenngleich mindestens zehn Minuten zu spät.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit