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die wahrheitIm Pflegeheim für zerrüttete Markenkonsumenten

Nachdem ich tags vor Silvester meinen Kühlschrank mithilfe etlicher Fußtritte demoliert, letztlich mit einer Streitaxt weitestgehend zertrümmert hatte...

Nachdem ich tags vor Silvester meinen Kühlschrank mithilfe etlicher Fußtritte demoliert, letztlich mit einer Streitaxt weitestgehend zertrümmert hatte, stimmte ich dem Begehr der Notdienstleister zu, mich in eine geschlossene Anstalt zu verfrachten, in ein "Guglhupf", wie es auf Wienerisch heißt.

Dank einer flüchtigen Diagnose sperrte man mich schließlich in das "Pflegeheim für Zerrüttete im Raum-Zeit-Kontinuum" ein. Die wahrhaft Schuldigen - starrsinnig beharrte ich auf meiner Ansicht - hatten sich inmitten des Zielobjekts, im Kühlschrank, aufgehalten.

Meinen Tobsuchtsanfall heraufbeschworen hatten nämlich die Aufschriften einiger Lebensmittel wie beispielsweise der Imperativ auf der Verpackung eines Frischkäses namens "Exquisa Gourmet": "Nach dem Öffnen alsbald verzehren". Wie viele Tage entsprechen diesem "alsbald"? Zwei, zwölf oder zwanzig? Die autoritären Züge meines Charakters lechzten nach klaren Anweisungen. Ein Datum!

Das Glas "Frucht pur" stiftete Verwirrung mit der Angabe, man solle den Seim "kühl aufbewahren und zügig aufbrauchen". Es schmeckte köstlich noch drei Wochen nach dem ersten Löffel voll. Oder täuschten sich längst meine Geschmacksnerven? Andere Nervengeflechte jedenfalls brannten wie Zunder, obendrein wucherte der Terror zwanghaften Rätselns. Wie nah beieinander stehen "zügig" und "alsbald"? Wie sind diese vergleichsweise vagen Adverbien in die mathematische, die messbare Zeit umzurechnen? Ich grub im philosophischen Archiv. Diese rechnerische Zeit sei, sofern ich Henri Bergson richtig verstehe, eine Form des Raumes (des Kühlschranks?) und der anorganischen Materie vorbehalten. Deshalb prägte er als Kontrast den Begriff der "Dauer", die erfasst werde durch Intuition. Und jener gleicht, die der Volksmund heute "gefühlte Zeit" nennt?

Die Genesung durch kontemplative Betrachtung misslang, die Zerrüttung rückte näher, und das Töpfchen vegetarisches Zwiebelschmalz entlastete keineswegs durch Präzision: "… innerhalb weniger Tage aufbrauchen." Wenige Tage? Ist die Liebste verreist, dehnen sie sich, steht der Zahlungsbefehl an, schnurren sie zusammen. In dem Sekundenbruchteil eines lichten Moments ahnte ich Erlösung: Man widersetze sich wohl besser dem Verlangen, der Hersteller möge den Befehl draufdrucken, das Produkt sei nach Ablauf von zwei Tagen, vier Stunden, dreizehn Minuten und sieben Sekunden in den Müll zu werfen.

In der Nacht vor dem Zornesausbruch jedoch schlich das Gespinst eines Albtraums heran. Durch das Lagerhaus einer Discounterkette schossen Wörter grell leuchtend wie Neonlichter: kurzfristig, sogleich, binnen kurzem, demnächst, zeitig … Das Kontinuum platzte.

Nachdem ich die SMS einer Freundin empfangen hatte, fühlte ich mich schlagartig wohler. Kommentarlos sandte sie ein Haiku, jene japanische Gedichtform aus siebzehn Silben: "Es ist, wie es ist / Und wenn nicht, dann nicht. Was bleibt? / Das Vergängliche".

Alsbald, zügig wurde ich entlassen.

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