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die wahrheitDer hässliche Sack

"Das darf doch nicht wahr sein", schoss es mir durch den Kopf, "zigtausend Menschen sind hier, aber ausgerechnet mich muss es wieder treffen."…

… Ich stand an der Garderobe der Leipziger Buchmesse, um heimwärts strebend meine Reisetasche abzuholen, die ich - wohlwissend um die ungeheuren Menschenmassen, die sich drängelnd und reibend, dicht an dicht, in Zeitlupentempo durch die Gänge schieben würden - hier zuvor geparkt hatte. "Tut mir leid", flüsterte die sichtlich aufgelöste Garderobendame, "ich kann ihre Tasche nicht finden, wenn sie vielleicht einmal selbst schauen möchten?"

Kein Problem. Hurtig schwang ich mich über den Tresen und begab mich auf die Suche. "Wie sah sie denn aus?", fragte die Dame. "Na, so beige, mit zwei Henkeln", antwortete ich mutlos, als ich mich im Reisetaschenraum inmitten eines gewaltigen Berges unzähliger beiger Reisetaschen mit zwei Henkeln wiederfand. Leider war aber keine davon meine. "Dann suchen wir jetzt auch zwischen den Gängen", beschloss die Dame und versuchte dabei ihrer Stimme einen fröhlichen Klang zu verleihen. Und wir suchten. Und suchten. Keine Spur von meiner Tasche. Im Geiste rechnete ich mir schon aus, was ich an Wiederbeschaffungskosten für den Inhalt aufbringen müsste, wenn das gute Stück tatsächlich verschwunden blieb

"Ist es vielleicht die hier?", rief jetzt die Dame freudestrahlend und wies auf eine beige Reisetasche mit zwei Henkeln, die vorher ganz bestimmt noch nicht dort gelegen hatte, wo sie jetzt lag, denn dort hatte ich auch schon nachgesehen. "Es ist ganz bestimmt die hier", beschwor mich die Dame. "Nein, die ist es nicht", erwiderte ich enttäuscht und betrachtete den schmutzigen, unförmigen Sack genauer, "Meine war nicht so hässlich." Nun deutete die Dame auf das Nummernkärtchen in meiner Hand und sagte: "Laut dem Nummernkärtchen in ihrer Hand dürfen sie die aber mitnehmen."

Und tatsächlich: Die Zahlen auf der Karte und an dem Sack stimmten überein, was aber nichts an der Tatsache änderte, dass das nicht meine Tasche war. Meine Tasche, so erinnerte ich mich vage, war von einem seidig glänzenden, erfrischend leuchtendem Beige, und das Teil, das da verrottet und muffig mir zu Füßen lag, war angestoßen, verlebt und hatte noch dazu einen braunen Stoffbalken an der Seite. "Eine Verwechslung", jammerte ich, "Jemand muss die Nummer falsch angeheftet haben!"

Mir brach der Schweiß aus. "Schauen sie doch mal rein." Zitternd öffnete ich den Sack, ich fürchtete mich vor dem, was ich finden würde. "Wie kann das sein", rief ich dann, "das sind ja meine Sachen in der fremden Tasche!" Die Dame sagte freundlich: "Dann hat derjenige, der die Nummern vertauscht hat, freundlicherweise auch den Inhalt der verwechselten Taschen ausgetauscht. Ich würde vorschlagen, sie nehmen jetzt einfach diese Tasche. Und sooooo hässlich ist sie ja nun auch nicht." Ich nahm also notgedrungen den alten Schmutzsack mit nach Hause. Das Ganze ist äußerst gespenstisch, und es gruselt mich noch immer.

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1 Kommentar

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  • S
    Seelensammler

    Ähnliches ist mir mal mit einem guten Freund passiert. Den hatte ich kurz im "Einstein" abgesetzt und als ich wieder kam, saß da ein völlig Fremder. Die Haarfarbe war kongruent, die Augenfarbe auch, aber es war nicht mein Kumpel. Vor lauter Wut habe ich den Fremden dann erschossen. Später bei der Obduktion stellte sich raus, daß da genau das Gleiche in ihm ist. Eine Lunge, ein Herz, zwei Nieren und so weiter. Aber ich schwöre, es war nicht mein guter Freund.