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die wahrheitDie Zierstaubsammlung

Manche meinen, wir seien gar nicht auf irgendeinem fernen Gestirn, sondern bloß – stark verkleinert – auf dem Kleiderschrank im Schlafzimmer...

... Für unsere starke Verkleinerung können sie allerdings keine plausible Erklärung anbieten. Wie auch immer, wenn man uns aus der Höhe betrachtet, sehen wir aus wie fremdartige Wesen auf einer Schutthalde. Dieser Eindruck verdankt sich dem vielen Staub, aus dem wir mittels eines Veredelungsverfahrens Zierstaub für Kleinhaushalte bereiten. Es ist einsam hier oben, die Arbeit hart. Niemand ist freiwillig an diesem Ort.

"Was verschlägt Sie denn hierher?", werde ich gefragt. "Das war so: Ich hatte eine Idee, die sich dann leider als missgebildet erwies", beginne ich, doch man unterbricht mich: "Hören Sie nur, wie der Mond glüht!" Ich finde, es klingt missgebildet.

Das Beste, was wir hier oben haben, sind die Partys bei Charlotte Krüger (Name unkenntlich gemacht). Ihr Mann ist Inhaber der örtlichen Glühbirnenfabrik und nie zu Hause. Die Anhänger der Kleiderschrank-Theorie sind der Meinung, er hätte sich "den Schrank abwärts aus dem Staub gemacht", offiziell jedoch verlautet, die Geschäfte erforderten seine dauernde Anwesenheit in der Fabrik. Seine Frau, auch "Witwe" genannt, bekämpft ihre Einsamkeit mit wöchentlichen Partys in ihrem Bungalow. Alle sind eingeladen.

Nach meiner Ankunft wurde ich Frau Krüger vorgestellt. "Wen bringt ihr alten Sünder mir denn da?", fragte sie meine Kollegen, offenkundig nicht mehr nüchtern. Dann nahm sie mich mit ins Hinterzimmer. Ich befürchtete das Schlimmste, denn ich bin so dick unterm Hemd. Frau Krüger schenkte Wein ein, reichte mir ein volles Glas und sprach: "Trinken wir darauf, dass wir alle unweigerlich zu Staub werden." Wir stießen an, dann fuhr sie fort: "Ich will Ihnen meine Sammlung zeigen." – "Was sammeln Sie denn?" – "Frösche."

Sie kramte einige flache, längliche Kästen aus einem Schrank hervor. "Hier", sagte sie, "in diesen Kästen sammle ich Frösche wie andere Leute Briefmarken." Gespannt sah ich zu, wie sie den ersten schweren Deckel anhob. "Das sind keine Frösche", wandte ich auf den ersten Blick ein, "das sind Fledermäuse."

So entstand meine Verbindung mit der Sammlung Krüger. "Wenn Sie alles besser wissen", rief die Gattin des Glühbirnenfabrikanten aufgebracht, "dann sammeln Sie doch weiter! Mir ist die Lust dazu gründlich vergangen!" Sie warf ihr nicht vollständig geleertes Glas zu Boden und stürmte hinaus. Erstaunlicherweise war sie später wieder freundlich zu mir und kam nie auf unsere Meinungsverschiedenheit zu sprechen.

Die Vertreter der Schlafzimmerschrank-Theorie dichteten uns bald ein Verhältnis an, ja, sie behaupteten gar, Charlotte Krüger habe mich adoptiert. Wahr ist vielmehr: Ich bin inzwischen ehrenamtlicher Kurator der Sammlung. Nach Feierabend, wenn ich eigentlich schlafen müsste, sichte und katalogisiere ich die getrockneten Exponate in den Kästen. Je länger ich mich damit beschäftige, desto unsicherer werde ich, ob es tatsächlich Fledermäuse sind.

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