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die wahrheitStocknüchterne Verwöhnmomente

Dank einem Ratschluss der Gestirne liegt schräg gegenüber meiner Mansarde ein Laden, wo die Anonymen Alkoholiker...

... ein "Kontaktzentrum" eingerichtet haben. Einige von ihnen verweilen des Öfteren auf eine Zigarettenlänge vor dem Eingang. Unlängst gesellte ich mich dazu. Prachtexemplar eines Witzboldes, trachtete ich danach, die Auftaktformel ihrer Treffen zu veralbern: "Ich heiße Gotthold Ephraim Lessing und bin Alkoholiker."

Krawumm! Der Überraschungseffekt müsste wenigstens Verwirrung stiften, hatte ich erwartet, ohne zu bedenken, dass die Mitglieder Auftritte wie diesen professionell und - Obacht! - stocknüchtern beiseiteschieben würden. Ja, mit Gegenschlägen hatte ich gerechnet, fahle Neugier mich verlockt, boshaft überdies eingedenk des Slogans der Lebensmittelkette Rewe, die mit der "Genussmarke" namens "Feine Welt" beteuert, jeder Tag verdiene einen "Verwöhnmoment".

Die Truppe schwieg. Grollend starrte einer mir tief in die Augen, eine fühlte sich merklich veralbert. Ungerührt verfolgte ich den Plan, im Anschluss an den raffinierten Einstieg etwas vorzutragen, mächtig stolz, fünf Zeilen auswendig gelernt zu haben, Verse von - Überraschung! - Lessing, den wir Anhänger der dialektischen Aufklärung hochschätzen. Ergo legte ich los: "Ob ich morgen leben werde / Weiß ich freylich nicht: / Aber, wenn ich morgen lebe / Daß ich morgen trinken werde / Weiß ich ganz gewiß."

Abermals Stille bis auf ein ungeduldiges Pfeifen, begleitet von himmelwärts verdrehten Augen. Einer bemerkte dann, er halte Lessing für den "Tony Marshall des 18. Jahrhunderts". Krawumm! Darauf wusste ich nichts express zu erwidern. Während die Anonymiker allesamt zurück in den Laden schritten, trollte ich mit einem "Na gut, tschüss, halten Sie sich wacker" von dannen.

Tags darauf entnahm ich dem Archiv, dass der geschätzte Kollege Gerhard Henschel auf der Wahrheit-Seite Lessing mit diesem Vergleich geschmäht hatte. Die Provokation focht weder mich noch Lessing an, man lese nur dessen Briefwechsel mit Eva König. Andererseits: Sollte ich jetzt nicht besser einen heben, zur harmlosen Lockerung, versteht sich? Anschließend würde ich fernab von Lessing einen Vierzeiler reimen wie "Sie hat ihn zum Glück gezwungen / Typisch Mann hielt er es nicht aus / Es ist ihr gründlich misslungen / Und bald schmiss sie ihn raus."

Nun, vom Trinken zunächst Abstand nehmend entschloss ich mich, eine nahrhafte Suppe zu kochen für meine Freundin und mich. Immerhin hatte der Philosoph Paul "anything goes" Feyerabend in seiner Autobiographie "Zeitverschwendung" kundgetan: "Jede Kolumne ist von Natur aus eine Minestrone!"

Lärm und Gelächter rollten quer über die Gasse hinauf unters Dach, indes ich Zutaten häckselnd eine Flasche Sangiovese leerte. Die Gefährtin sagte unversehens ab. Ob ich am nächsten Morgen leben würde oder tot auf dem Asphalt liegen, war ungewiss. So subtil wie der Alltag kann denn doch keine Kolumne sein.

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1 Kommentar

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  • B
    Brillat-Savarin

    Dass die Gefährtin absagte, ist nachvollziehbar. Zwar kann jeder, der lesen kann, im Prinzip auch kochen. Aber ein gewisses Misstrauen kommt da schon auf, wenn der Koch DEM minestrone – »IL minestrone« – den femininen Artikel zuweist, Sangiovese hin oder her. Möglicherweise sucht er sich die Zutaten für Risotto funghi in Schwimmbad-Umkleidekabinen zusammen ...