die wahrheit: Der Flucht der Greiffenclemms
Ich bin ein Sohn der Küste und stamme aus einer sehr friedlichen Familie. Meine Vorfahren waren Fischhändler, Krabbenpulerinnen...
... und Werftarbeiter, und vergeblich sucht man in dieser Ahnengalerie nach Ganoven und Banditen. Dachte ich zumindest. Bis Kegélyi-Drosz bei mir klingelte.
"Kegélyi-Drosz", stellte er sich vor, als ich die Tür öffnete: "Sie sind in großer Gefahr!" Er drängelte sich an mir vorbei in die Wohnung. "Aber noch", fuhr er fort, "können Sie sich retten. Sie kennen den Fluch der Greiffenclemms?"
Ich zuckte die Schultern. "Hört sich nach einem tschechischen Kinderfilm an." "Blödsinn!", schnarrte er: "Die Greiffenclemms waren ein hessisches Adelsgeschlecht, das im 14. Jahrhundert verarmte und daraufhin sehr erfolgreich der Raubritterei nachging. Bei einem ihrer Überfälle jedoch erwischten sie den Handelsreisenden Bunkfried von Kellerstein, und das hatte verheerende Folgen. Denn Kellerstein …", er blickte mich starren Blickes an, "… verfluchte sie bis ins letzte Glied!"
Er entfaltete ein Papier, das einen weit verzweigten Stammbaum zeigte. "Bitte schön!", sagte er, wies da- und dorthin: "Balduin von Greiffenclemm: Von einem herabstürzenden Deckenbalken erschlagen. Trutz von Greiffenclemm: An einem Hühnerknochen erstickt. Oder hier, diese Nebenlinie: Neidhardt von Bommelheim: Beim Rasieren verblutet. Dann hier …", er zeigte auf einen Namen weit unten: "Ihr Großvater mütterlicherseits!" Ich schluckte, denn tatsächlich war mein Großvater 1932 aus Hessen nach Norddeutschland eingewandert: "Aber mein Opa", sagte ich, "ist eines natürlichen Todes gestorben - hochbetagt!" "Weil er Glück hatte!", grinste Kegélyi-Drosz.
Er hatte recht: Zweimal versank mein Opa während des Zweiten Weltkriegs in den Fluten des Nordmeers und überlebte nur durch ein Wunder. Auch später, als Werftarbeiter, wurde er von zusammenkrachenden Gerüsten oder Kabeltrommeln, die sich selbstständig machten, immer nur um Haaresbreite verfehlt.
Kegélyi-Drosz zeigte unterdessen auf den Namen, der ganz unten stand. "Der letzte männliche Nachkomme der Greiffenclemms!", sagte er, und ich wusste, wer das war. Ich musste an die Blutvergiftung denken, die mich seinerzeit fast dahingerafft hätte, an den führerlosen Trecker, der mir einmal auf einem Waldweg entgegenrollte, an das Feuer, das vor ein paar Jahren mitten in der Nacht unter meinem Bett ausbrach …
"Geben Sie mir Ihr Telefon!", sagte Kegélyi-Drosz. Er schraubte es auseinander, untersuchte die Einzelteile, setzte es wieder zusammen. "Gut", sagte er, "es ist sauber. Ich rufe Sie an!" Dann verschwand er. Kurz darauf klingelte es auch schon. Ich hob ab und meldete mich.
"Fahr zur Hölle, Greiffenclemm!", sagte eine Stimme, die mir sehr bekannt vorkam, und als ich zwei Tage später im Krankenhaus erwachte, erklärte man mir, dass ich beim Telefonieren einen Stromschlag bekommen haben musste, der eigentlich ausgereicht hätte, einen Elefanten aus diesem Leben abzuberufen.
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