die wahrheit: Brechts Vermächtnis
Literaturgeschichte: Neue Geschichten vom Herrn Keuner entdeckt.
In Bertolt Brechts berühmten "Geschichten vom Herrn Keuner" brilliert der Titelheld K. ein ums andere Mal mit seinem Scharfsinn, seiner Schlagfertigkeit und seinem Widerspruchsgeist. In Streitgesprächen behält er stets sowohl die Oberhand als auch das letzte Wort, während seine Widersacher beschämt zu Boden blicken und sich der Überredungsgewalt der mächtigeren Argumente beugen. Ein typisches Beispiel dafür findet sich in dem Dialog über die Schönheit einer Dame: "Herr K. sah eine Schauspielerin vorbeigehen und sagte: ,Sie ist schön.' Sein Begleiter sagte: ,Sie hat neulich Erfolg gehabt, weil sie schön ist.' Herr K. ärgerte sich und sagte: ,Sie ist schön, weil sie Erfolg gehabt hat.'"
Nun aber ist im Nachlass der Enkelin einer schwedischen Geliebten Brechts ein Konvolut ganz anders gearteter Geschichten aufgefunden worden, in denen der Herr Keuner uns als Mensch wie du und ich entgegentritt, mit Schwächen, Aussetzern, Trotteleien und Mundgerüchen, die man ihm überhaupt nicht zugetraut hätte. Weltexklusiv folgt hier eine repräsentative Auswahl der schönsten und bislang gänzlich unveröffentlichten Keunergeschichten.
Herr K. und seine Uhr
Als Herr K. bemerkte, dass seine Armbanduhr nachging, warf er sie fort. Sein Begleiter sagte: "Schade um die schöne Uhr! Die hätte man doch nur mal aufziehen müssen!" - "Daran habe ich gar nicht gedacht", sagte Herr K. und suchte nach der Uhr, doch sie blieb verschwunden, denn er hatte sie in ein tiefes Gewässer geworfen. "Meine nächste nachgehende Uhr", sagte Herr K., "werde ich in ein seichteres Gewässer werfen." Und nach reiflicher Überlegung fügte er hinzu: "Wenn überhaupt."
Die Schafherde
Eines Tages lief Herrn Keuner, dem Denkenden, eine Schafherde über den Weg. Diese Tiere, dachte er, sehen etwas dumm aus, aber dann erfreute er sich doch an der Weichheit ihres Fells, und er sagte: "Schön weich."
Eine Begegnung
In einem Tanzpalast begegnete Herr Keuner einer Frau, die ihn begehrte. Er sei leider bereits mit der Revolution verheiratet, sagte Herr K., und die Frau entschwand. Nach fünf Minuten tiefen Grübelns lief Herr K. ihr hinterher und fand sie in den Armen eines haarigen Südländers wieder, von dem sie sich auf einer Parkbank in viehischer Manier begatten ließ. "Ich habe noch einmal über uns nachgedacht", rief Herr K., doch als Erwiderung brachte die Frau nur die Worte hervor: "Ich bin gerade in einem anderen Space." - "Upps", sagte Herr Keuner, der ein gutes Gespür dafür hatte, wann er fehl am Platze war. "Bin schon weg!"
Das Frühstücksei
Beim Frühstück missfiel Herrn K. der Aggregatzustand des Eidotters. Für seinen Geschmack war es zu hart geworden. "Ich bevorzuge weich gekochte Eier mit goldgelbem, flüssigem Dotter", sagte Herr Keuner, und er hätte das Thema gern noch vertieft, doch es waren keine Zuhörer anwesend, und so verstummte er und begnügte sich mit einem Tritt gegen die Küchentür, obwohl die ja nun wohl absolut nichts dafür konnte.
Über den Mittagsschlaf
Seinen Mittagsschlaf hielt Herr Keuner am liebsten in der Veranda ab, weil er beim Betrachten der Schimmelflecken an der Decke gut einschlummern konnte. Einer der Flecken ähnelte in seinen Umrissen dem Eiland Sizilien und ein anderer der Silhouette eines eingerollten Igels. Mehr als einmal dachte Herr Keuner darüber nach, ob sich daraus eine Lehre ziehen lasse, doch er schlief jedes Mal ein, bevor er diesbezüglich einen klaren Gedanken zu fassen vermochte.
Vom Krakeelen
In den Zeiten der großen Wirren suchte Herr Keuner eines Abends ein Wirtshaus auf und schaute dort, wie man wohl leider sagen muss, zu tief ins Glas. Im Laufe dieses Abends und der Nacht, die sich daran anschloss, verlor er nacheinander ein Skatspiel, die Selbstbeherrschung, drei Schneidezähne, seine gesamte Barschaft, einen Kragenknopf, das körperliche Gleichgewicht und am Ende auch das Bewusstsein. Als er schließlich wieder zu sich kam, befand er sich in einer Gummizelle und erinnerte sich plötzlich voller Unbehagen daran, dass er bei seiner Verhaftung einen der Polizisten in den Oberschenkel gebissen, einem anderen den Hitlergruß entboten und einem dritten irgendetwas von "Dialektik" vorgefaselt hatte. "Auweia", wimmerte Herr Keuner, erschüttert von seinem eigenen Schlaubergertum, und verschied. Und kein Geistlicher hat ihn begleitet.
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