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die wahrheitDie 16-Grad-Party

Die Zukunft des Sozialstaats: Nicht nur arme Unterschichtler werden künftig zu Beginn der Heizperiode das große Pulloverfest feiern.

Am besten, man zieht sich, wenn die Heizperiode beginnt, den Pullover bis über die Ohren. Bild: plainpicture / wildcard

Sie setzen sich schwarze Brillengestelle auf, kleben sich lustige Schnurrbärte an und werfen Konfetti, Eiswürfel und Wollsachen aus dem Fenster auf die Straße. Wie jedes Jahr zu Beginn der Heizperiode Ende Oktober feiern viele Menschen in Deutschland auch in diesem Jahr ausgelassen das traditionelle Pulloverfest. So auch die siebenköpfige Familie Demian, die seit zwanzig Jahren in einer zweistöckigen Gründerzeitvilla in einer Seitenstraße in Berlin-Dahlem lebt.

Frau Demian, eine untersetzte Frau mit einem imposanten Schnurrbart im Gesicht, öffnet uns die goldverzierte Eingangstür zu ihrem Domizil. Die Vorbereitungen zum Pulloverfest sind bereits in vollem Gange. An den schweren Kronleuchtern hängen Luftschlangen und Fähnchen mit "16 Grad"-Aufdruck.

"Bin gleich so weit!", ruft uns Herr Demian zu und eilt in fleckigen Jogginghosen durchs Vestibül, um gleich wieder hinter den Flügeltüren seines Esszimmers zu verschwinden. Unterdessen schleppen die Kinder Alditüten voller Wollsachen die breite Marmortreppe hinauf. "Die kippen wir heute Abend auf die Straße", kichert Frau Demian.

Dabei hatten die Demians in der Vergangenheit oft wenig zu lachen. Wie tausende andere Mieter auch waren sie von der 2014 in Kraft getretenen Reform der Heizungsverordnung für Sozialmieter (HeiSoz II) betroffen, die auf den Vorschlägen der Kommission "Effizientes Energiemanagement in sozial benachteiligten Haushalten" unter Leitung des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin (SPD) beruhten.

Das "Pulli-Diktat" (Frankfurter Rundschau) hatte eine Begrenzung der Raumtemperatur in Haushalten von Hartz-V-Beziehern und Mietern in Sozialwohnungen auf 16 Grad Tagestemperatur beziehungsweise 5 Grad Nachttemperatur vorgeschrieben, was zu einer völlig unkontrollierten Ausbreitung von Schimmelbefall in den vorwiegend von sozial schwachen Familien bewohnten Wohngebieten geführt hatte. Der durch aufwändige Sanierungsarbeiten, Abriss, Neubau und Umsetzungen verursachte volkswirtschaftliche Schaden wird vorsichtigen Schätzungen zufolge auf mehrere Milliarden Euro beziffert.

Viele Menschen wurden damals von heute auf morgen obdachlos und mussten in Ersatzunterkünften untergebracht werden. Insbesondere viele kinderreiche Familien aus den betroffenen Gebieten wanderten nach Griechenland ab, nachdem der griechische Ministerpräsident angeboten hatte, die "Schimmeldeutschen" ("Kathimerini") in Ferienhäusern und Yachten am Mittelmeer unterzubringen.

"Bei uns waren es zu Hause immer 16 Grad, ich habe es überlebt", hatte Sarrazin noch auf dem Höhepunkt der Aspergillus-fumigatus-Krise die HeiSoz II verteidigt und den Betroffenen dicke Pullover und Stoßlüften empfohlen. Zudem beschuldigte er den Thermostathersteller, die Probleme verursacht zu haben. Xuan habe defekte Geräte geliefert, die bereits bei 9 Grad blockiert hätten.

"Der Chinese kennt das Wort Wertarbeit nicht", erklärte Sarrazin. Die chinesische Regierung sprach daraufhin von einem "schmutzigen deutschen Wirtschaftskrieg" und brach alle diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab. Die schwere Wirtschaftskrise infolge sich stetig verschlechternder Handelsbeziehungen mit China zwangen die SPD-geführte Regierung schließlich zum Rücktritt und führten zu Neuwahlen.

Nur zwei Tage nach seiner Amtseinführung war der neue Vizekanzler Cem Özdemir am 9. März 2017 nach Peking gereist und hatte in seiner sogenannten Kniefallrede erklärt, die damalige Regierung unter Siegmar Gabriel habe "den 11. September des Wohnungsmarktes" voll und ganz "selbst zu verantworten". China treffe keine Schuld. Dies hatte auch die mitgereiste Familienministerin Claudia Roth bekräftigt, die erklärte, "Gabriel solle sich zukünftig aus der Politik heraushalten und sich um die Eisbären im Zoo kümmern".

"Es hatte uns kalt erwischt damals", erzählt Herr Demian und drückt behutsam eine Kippe auf dem dunklen Wallnussparket aus. Monatelang hatte das Ehepaar in seiner Einraumwohnung mit Außentoilette und Küchenzeile direkt am Autobahnkreuz mit dem Schimmelbefall leben müssen. "Meine Frau war damals mit unserem ersten Sohn schwanger."

Verzweifelt hatten sich die Demians im Dezember 2017 in einem Brief an Bundeskanzler Jürgen Trittin gewandt - und prompt ein Einladungsschreiben seiner Wohnraumbeauftragen Tine Wittler zur Teilnahme an dem dreitägigen Seminar "Wärmedurchgangskoeffizientes Handeln in von Ascomycota besiedeltem Wohnraum" erhalten. Hingegangen sind die Demians nicht, aber die Einladungskarte hat Herr Demian bis heute aufbewahrt.

"Ich hole sie schnell", sagt er und steigt in den Lift, um in die Beletage hochzufahren. "Ich mochte die dicke Frau einfach nicht", ruft er aus dem Ankleidezimmer, wo er schnell noch die weiße Jogginghose gegen eine grüne Camo-Hose wechselt.

Statt zu Tine Wittler zu gehen, beteiligten sich die Demians lieber an den bundesweiten Protestmärschen gegen die nach Meinung vieler Betroffener unzureichenden Sanierungskonzepte der Regierung. "Man wollte uns mit OBI-Gutscheinen und neuen Tapeten abspeisen", empört sich Frau Demian und dreht das Thermostat der Komfortfußbodenheizung bis zum Anschlag. Den Umzug in eine der Ausweichunterkünfte lehnte die Familie ab.

Völlig zu Recht, wie der Europäische Gerichtshof in seinem bahnbrechenden Urteil vom 31. Oktober 2018 entschieden hat. Den von den Folgen der HeiSoz II betroffenen Mietern sei es nicht zuzumuten, eine weitere Verschlechterung ihrer Wohnsituation hinzunehmen. Der Umzug in eine kleinere oder schlechter ausgestattete Wohnung widerspreche dem Gebot der Mieterfreizügigkeit. Vielmehr müsse den Schimmelopfern "einkommensunabhängig" angemessener Wohnraum finanziert werden. Der Mietspiegel sei dabei auch nach "oben hin voll auszuschöpfen". Damit standen Familien wie den Demians auch Luxusimmobilien offen.

Nach der "Tagesschau" am 31. Oktober 2018 gingen zahlreiche Menschen in Deutschland spontan auf die Straße, um das Urteil zu feiern. Männer und Frauen rissen sich die Pullover vom Leib und warfen mit Eiswürfeln um sich. Spontan wurde die Nationalhymne gesungen und das Lied "Ich bau ne Stadt für dich aus Glas und Gold und Stein" angestimmt.

Auch Herr Demian kann sich noch gut an den Abend des 31. Oktober erinnern. Er setzte sich nach der "Tagesschau" in den Bus und fuhr von Britz nach Dahlem, um sich nach einer freien Villa im Grünen umzusehen. " ,Feiern', habe ich meiner Frau damals erklärt, ,können wir noch unser ganzes Leben lang' ", erzählt er und zündet den ersten Polenböller in der stuckverzierten Eingangshalle. Damit ist die Pulloverparty 2038 bei den Demians eröffnet.

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