die taz vor zehn jahren über pakistan und seine „islamische“ atombombe :
Jetzt ist es offiziell, auch Prophet Mohammed hat seine Bombe. In den Kategorien, nach denen heutzutage außenpolitisch gedacht wird, gibt es nach der christlichen – protestantischen, katholischen und orthodoxen – Atombombe, der buddhistisch- konfuzianischen, der hinduistischen und der jüdischen nun auch die muslimische Bombe.
Die Wahrnehmung eines Konflikts ist immer auch ein Teil seiner möglichen Lösung. Deshalb ist es so fatal, komplexe Interessenlagen auf einfache Formeln wie den „Kampf der Kulturen“ zu reduzieren. Das gilt ganz besonders für die atomare Aufrüstung. Wie wenig die Atombomben Indiens und Pakistans mit dem Glaubensbekenntnis ihrer jeweiligen Bevölkerungsmehrheit zu tun haben, sieht man schon an ihrer Entstehungsgeschichte.
Bis Ende der achtziger Jahre gehörten die beiden Länder zu einer geopolitischen Region, in der die beiden Supermächte zäh und mit hohem Einsatz um Einfluß und Macht geschachert haben. Dies hieß auch, die atomare Rüstung der jeweils eigenen Klientel stillschweigend zu dulden oder gar zu unterstützen. Viel mehr denn als Ausdruck religiöser Antagonismen sind die Bomben als Spätfolgen des Kalten Krieges zu sehen.
Kein Lamento über die muslimische Bombe ist jetzt anzustimmen, sondern ein neuer Ansatz für ein weltweites Atomwaffenkontrollregime steht auf der Tagesordnung. Eines, das die realen Interessenkonflikte zugrunde legt und Vorschläge macht, die für alle akzeptabel sind. Die indische und die pakistanische Bombe haben gezeigt, daß ein Atomwaffensperrvertrag wie der gegenwärtige, der die offiziellen fünf Atommächte de facto von der Abrüstung ausnimmt, die Verbreitung der Bombe nicht verhindern kann. Wer glaubt, nur immer die anderen daran hindern zu können, sich die Bombe zuzulegen, wird jedes Nicht-Weitergabe-Programm zum Scheitern verurteilen.
Jürgen Gottschlich, taz vom 30. 5. 1998