die taz vor zehn jahren über das angebliche ende von multikulti und die zukunft der migrationspolitik :
Die Multikultigesellschaft ist angeblich tot. Islamisten gebärdeten sich als Demokraten, Feministinnen hörten sich geduldig die Vorzüge des Schleiers an, deutsche Linke fanden kurdische Faschisten toll. Für eine Umarmung war keine Verrenkung zuviel. Jetzt auf einmal soll diese feine Gesellschaft multikultureller Lügen gescheitert sein. Doch die multikulturelle Gesellschaft ist keine Kopfgeburt, sondern globale Realität. Sie führt nicht nur zu mehr Toleranz, sondern auch zu Abschottung und Xenophobie. Wenn die Komplexität multikultureller Gesellschaften vor Augen tritt, ist das kein Zeichen für ihr Scheitern, sondern für den Beginn von etwas Neuem. Eine verhärtete, ideenarme Gesellschaft wird sich schwertun, Spielregeln für diese neue Gesellschaftsform zu entwickeln. Dann ist fast nur von Kriminalität die Rede, wenn es um Einwanderer geht. Im Fremden lauert Gefahr. Um so mehr, je näher er einem kommt. Und die Einwanderer sind den Deutschen verdammt nahe gerückt.
Die Formel „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ ist von gestern. Deutschland wird auf Dauer mit einer starken türkischen Minderheit leben müssen. Den meisten Türken geht es in Deutschland nicht schlecht. Nicht wenige zählen zu Aufsteigern in dieser Gesellschaft. In Deutschland aber konzentriert man sich, anders als in den USA, auf Arbeitslose, gewaltbereite Jugendliche, islamische Fundamentalisten, die die innere Sicherheit Deutschlands bedrohen. Damit gibt man leichtfertig die Chance auf, ein positives Modell der Einwanderung zu schaffen. Die deutsche Gesellschaft wird einen Vertrag mit den Einwanderern schließen müssen, so wie in den USA. Die Einwanderer aber müssen anerkennen, daß sie in ein Land eingewandert sind, das überhaupt nicht auf diese Einwanderung vorbereitet war. Statt nun pauschal das Aus multikultureller Träume zu bejammern, sollten jetzt Koordinaten für eine ehrliche Auseinandersetzung gesucht werden.
Zafer Senocak, 27. 7. 1997