die taz vor zehn jahren über Daniel Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“ :
Die Resonanz auf Daniel Goldhagens Buch, aber auch der Erfolg von Klemperers Tagebüchern und davor von Spielbergs Film „Schindlers Liste“ zeigt, daß es eine Remoralisierung des Blicks auf die Nazizeit gibt. Dabei geht es nicht um schlichte Betroffenheit, sondern um eine Verschiebung der Perspektive vom allgemein beschworenen Unheil weg auf das, was den einzelnen zu tun möglich war. Diese Frage kann man heute nicht mehr den Eltern stellen, sondern nur noch Büchern. Dort finden sich klarere Antworten.
„Schindlers Liste“ brach mit der Vorstellung, daß man, um richtig zu handeln, im Dritten Reich ein moralisches Überwesen hätte sein müssen. Klemperers Notizen über die alltägliche Judenfeindlichkeit in Dresden enthalten so viele Beispiele von auch judenfreundlichen Handlungen oder nur Gesten, daß sich der Eindruck aufdrängt: Es gab Möglichkeiten, sich anders zu verhalten als die meisten. Nur ergriffen wurden sie zu selten.
Um nichts anderes geht es auch in Goldhagens Buch. Ohnehin eher Erzählung als Analyse, akzentuiert es die Freiwilligkeit der Täter, ihren Status als Subjekte ihrer Taten. Das ist das, was man die moralische Perspektive nennt.
Im „Historikerstreit“, der letzten großen Debatte über die Nazizeit 1986, gab es die Befürchtung, daß der zunehmende zeitliche Abstand zu einem nur noch historisch distanzierten Umgang mit dem Nationalsozialismus führen könnte. Goldhagen und andere zeigen: Eben dieser Abstand kann auch ein moralisches Interesse aktivieren, das sich sehr direkt für die Menschen und ihre Handlungen interessiert. Das ist allerdings nicht der alte Moralismus der Nachkriegsjahre, der sich hoffnungslos in Generationskonflikten verstrickte und sich mit Schuldgefühlen herumschlug, sondern eine Aufmerksamkeit für das bei allen Erklärungen weiterhin Rätselhafte: das tatsächliche Maß an Schuld, das die Täter auf sich geladen haben. Eberhard Hübner, taz,27. 9. 1996