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Archiv-Artikel

die taz vor 17 jahren über die erste runde des sed-parteitags

Die Wahl des Reformers Gregor Gysi in das neu geschaffene Amt eines Parteivorsitzenden war die intelligenteste aller denkbaren Antworten auf die Frage, wie die Entschlossenheit zu einer grundsätzlichen Wende ohne totalen Identitätsverlust zu demonstrieren sei.

Doch Gysi allein wird die SED nicht retten können. Erst wenn diese Partei tatsächlich nicht mehr umkehren kann, wird man ihr die Umkehr auch glauben. Die vier Jahrzehnte monopolistischen Machtmißbrauchs werden so schnell nicht vergessen sein. Die Parteimitglieder werden weiter mit dem Mißtrauen in ihrer Umgebung leben müssen. Ob sie durch diesen ersten Tag Vertrauen zu sich selbst zurückgewonnen haben, wird davon abhängen, ob sie diese Wende tatsächlich gewollt haben. Sie sind zu ihr durch die Krise und durch „die Straße“ gedrängt worden.

Aber dieser Druck traf auf eine Menge von Parteimitgliedern, die das alte Regime und das alte Lügen ebenso leid waren wie ihre Mitbürger. Der bisherige Verlauf des Parteitages mag ihnen zumindest das Gefühl gegeben haben, daß es Sinn hat, weiterzumachen. Das wäre angesichts der herrschenden Frustration schon eine ganze Menge – doch auch das wird vor allem davon abhängen, wie die Grundorganisationen der Partei in dieser Woche über den Parteitag diskutieren werden.

Die Ex-SED hat jetzt wieder eine artikulationsfähige Spitze, davon, auch wieder eine handlungsfähige Partei zu werden, ist sie noch weit entfernt. Immerhin – ein Anfang ist gemacht. Die Oppositionsparteien in der DDR sollten sich auf einen Zuwachs an Konkurrenz zumindest schon einmal einstellen. Denn falls es der SED gelingt, Umstrukturierung und programmatische Umorientierung konsequent fortzusetzen, würde daraus eine Partei mit einem Potential an Mitgliedern, an Wissen und Erfahrung hervorgehen, die nicht ignorieren kann, wer eine demokratisch-sozialistische Erneuerung der DDR anstrebt. Walter Süß,taz vom 11. 12. 1989