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Archiv-Artikel

die taz vor 17 jahren über die demokratisierung in ungarn & polen

Ist Ungarn die Zukunft Polens oder Polen die Zukunft Ungarns? Die Nachricht, wonach zwischen den Vertretern verschiedener Gruppierungen der demokratischen Opposition und der Regierung in Budapest ein „runder“ beziehungsweise „dreieckiger“ Tisch vereinbart worden ist, erinnert an die polnische Erfahrung und deren Dilemma.

In seinem jüngsten Interview hat es der ungarische Reformpolitiker Imre Pozsgay ausdrücklich abgelehnt, für die Wahlen eine Quotenregelung nach polnischem Muster zu übernehmen, die der Machtelite eine Galgenfrist einräumen würde.

Im Gegensatz zu Polens Premier Rakowski, der sich weigert, „die Hypothese des Machtverlustes in Betracht zu ziehen“, räumt Pozsgay die Möglichkeit einer Wahlniederlage ein. Soviel Realitätssinn glaubt er sich leisten zu können, denn er kalkuliert, daß die Partei unter seiner – einer offen sozialdemokratischen Führung – für ein achtbares Wahlergebnis gut sein wird. Er weiß schließlich, daß er Bündnispartner finden wird: im nationalistischen und populistischen Lager.

Für die demokratische Opposition in beiden Ländern wäre es ungefähr das schlimmste, wenn sie jetzt die Regierung übernehmen müßte. Ihr außenpolitischer Handlungsspielraum wäre begrenzt, sie sähe sich antidemokratischen Verwaltungs und Sicherheitsapparaten gegenüber, und vor allem: sie wäre gezwungen, die volle Verantwortung für all die schmerzhaften Einschnitte in die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu übernehmen, die unweigerlich mit der weiteren Wirtschaftsreform verbunden sein werden.

Die Alternative wäre konstruktive Opposition, Kontrolle und die Durchsetzung eines tiefgreifenden staatlichen und gesellschaftlichen Demokratisierungsprogramms. Das Bürgerkomitte Solidaność hat sich jetzt für diese Linie entschieden. Die Frage ist nur, ob eine erbitterte Bevölkerung ihr folgen wird. In Polen – wie in Ungarn.

Christian Semler, taz vom 12. 6. 1989