die taz vor 16 jahren : Gnade und Recht
Der frühere RAF-Mann Peter-Jürgen Boock ist aus der RAF „ausgestiegen“. Der Aussteiger stand im Zentrum einer breiten Solidaritätskampagne, selbst die Brüder des von der RAF ermordeten Gerold von Braunmühl spendeten zu seinen Gunsten 20.000 DM. Boock begründete seine Verteidigungslinie mit zwei Argumenten: Er sei Aussteiger, der andere dennoch nicht denunzieren wolle, außerdem sei er 1977 medikamentenabhängig gewesen.
Nun gibt es inzwischen einen neuen Haftbefehl gegen Peter-Jürgen Boock. Er soll 1979 an einer Schießerei in Zürich beteiligt gewesen sein, bei der eine Passantin erschossen wurde. Ein Haftbefehl ist kein Urteil. Aber dennoch stellen sich schon jetzt Fragen an Boock, Fragen auch an eine möglicherweise ungenügend fundierte Solidaritätskampagne. Es gibt das gesetzliche Recht eines Angeklagten, Fakten zu unterschlagen, sogar zu lügen. All das ist legitim. Doch öffentliche Solidarität baut auf der Annahme auf, daß dem Deliquenten schweres Unrecht widerfährt und daß seine Einlassungen wahr sind. Wenn es um Mord geht, ist die Wahrheit schwerlich teilbar. Die solidarische Öffentlichkeit hat sich auf Boock verlassen. Es besteht nun die Gefahr, daß sich diese Öffentlichkeit einfach zurückzieht. Man könnte sich aber auch dafür engagieren, daß die Wahrheit über den Deutschen Herbst 1977 doch noch ans Licht kommt. Das geschieht am ehesten durch Strafverfahren. Es setzt den Willen aller Prozeßbeteiligten voraus, an eben dieser Wahrheitsfindung mitzuwirken. Es sollte also nicht Gnade vor Recht ergehen, die Gnade allerdings dem Recht folgen.
Götz Aly in der taz, 22. 10. 1990