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Archiv-Artikel

die taz vor 10 jahren über den islam und die bildungspolitik in der türkei

Kaum zwei Wochen im Amt, hat die neue türkische Regierung unter Mesut Yilmaz jetzt einen Gesetzentwurf vorgelegt, den die türkischen Militärs bei den Vorgängern über Monate vergeblich angemahnt hatten. Die allgemeine Schulpflicht soll von fünf auf acht Jahre verlängert werden. Hinter dieser Auseinandersetzung verbirgt sich allerdings nur bedingt ein Konflikt um Bildungschancen, der Kampf geht um die Köpfe und Herzen der Kinder und Jugendlichen des Landes. In den letzten zehn Jahren hatten mehr und mehr religiöse Schulen die Weiterbildung der Kinder ab dem fünften Schuljahr übernommen. Schulen, die ursprünglich lediglich zur Ausbildung von Imamen gedacht waren, hatten zunehmend ein Vakuum in der Allgemeinbildung übernommen und Jugendliche für sämtliche Studiengänge vorbereitet.

Die AbsolventInnen der Koranschulen, so fürchten die türkischen Militärs, sind die fünfte Kolonne des islamischen Fundamentalismus in der türkischen Gesellschaft. Aus diesem Grund sollen jetzt staatliche Schulen für acht Jahre Pflichtprogramm werden und so die Koranschulen überflüssig machen. Gleichzeitig hat die Regierung die Schließung hunderter Koranschulen angeordnet – sicher ist sicher, und die Militärs werden begeistert sein.

Es gehört zu den verheerendsten Charakteristika der türkischen politischen Kultur, gesellschaftliche Konflikte repressiv anzugehen. Jetzt schickt sich das Militär, und mit ihm das kemalistische Establishment in der türkischen Politik, erneut an, den aktuellen Konflikt mit den islamischen Kräften wieder mit Gewalt lösen zu wollen. Das kann nicht gutgehen, birgt im Gegenteil noch ein größeres Konfliktpotential als die gewaltsame Antwort auf die Forderungen der Kurden. Wenn die ersten bewaffneten islamischen Gruppen auftauchen, drohen in der Türkei ägyptische, im schlimmsten Fall sogar algerische Verhältnisse. Der Machterhaltung der Militärs kommt das entgegen. Jürgen Gottschlich, 23. 7. 1997