die taz-empfehlung : Deutsche wussten um den Holocaust
Er setzt Kontrapunkte, und das schon seit langem: Der Mitwisserschaft der deutschen Bevölkerung bezüglich der Ermordung der europäischen Juden widmet sich der Wissenschaftler Peter Longerich in seinem heutigen Vortrag am Institut für Sozialforschung. „Davon haben wir nichts gewusst!“ lautet der Titel des Vortrags sowie des zugehörigen, soeben erschienenen Buchs. Flugblätter, alliierte Rundfunkprogramme, geheime NS-Stimmungsberichte zur „Judenfrage“ sowie Tagebücher und Gerichtsakten hat der Autor, Inhaber einer Professur für Moderne Deutsche Geschichte in London, dafür studiert.
Seine Ergebnisse konterkarieren die immer wieder propagierte These, „die Bevölkerung“ habe nicht gewusst, was „die Nazis“ mit den Juden taten. Sehr gezielt nämlich habe das NS-Regime über die Judenvernichtung informiert und die Bevölkerung bewusst zu Mitwissern gemacht, weiß Longerich. Zwar wurden Details der Vernichtungsaktion nur vereinzelt publik, im Übrigen aber sei der Abtransport der jüdischen Bevölkerung durchaus Teil des öffentlichen Bewusstseins gewesen. Auch die Versteigerung jüdischen Eigentums kann nicht heimlich geschehen sein. Begreiflich also, dass sich bei den Mitwissern gegen Kriegsende Verdrängung und die Angst vor Strafe einstellten.
Longerich liefert eine notwendige Korrektur des deutschen Geschichts- und Selbstbildes, die mit einem Mythos aufräumt, dessen Glaubwürdigkeit schon lange in Zweifel stand. Moderiert wird die Veranstaltung von Jan Philipp Reemtsma. PS
heute, 20 Uhr, Institut für Sozialforschung, Mittelweg 36