die stimme des jahrhunderts von JÜRGEN LABENSKI :
Eigentlich hätte er mir schon damals auffallen können. Anfang der Fünfzigerjahre im Kino „Capitol“ in Berlin-Dahlem. Aber da beherrschte Laurence Olivier als Hamlet noch die Leinwand, während Christopher Lee dezent im Hintergrund mitwirkte. Später fiel er schon eher auf in John Hustons „Moulin Rouge“. Richtig aber dann als zähnewetzender Dracula in so vielen Adaptionen und in den immer gleichen Hammer-Film-Dekorationen.
Dann als spaßiger Sherlock Holmes in einer hochkarätig besetzten Artur-Brauner-Produktion. Schade war nur, dass selbst in der englischsprachigen Version Christopher Lee sich nicht selbst synchronisieren durfte. Der Wunsch, die völlig missglückte deutsche Mono-Fassung durch eine neue Stereo-Synchronisation für das ZDF zu ersetzen, führte dann zum Kontakt mit einer der vielseitigsten Künstlerpersönlichkeiten, einem der freundlichsten, hilfsbereitesten und liebenswertesten Menschen, denen ich je begegnet bin. Aus der neuen Synchronisation wurde zwar nichts (der Produzent hatte alle Musikaufnahmen bis auf eine einzige vernichten lassen), dafür aber kam es zu einer Begegnung in Wiesbaden am 31. Oktober 1995, dem Vorabend des 100. Geburtstages der Kinematografie. Die Kinogeburtstags-Gala erforderte allen Einsatz. Und meine Freunde Christopher Lee und seine zauberhafte Frau Gita standen mir zur Seite. Christopher Lee berichtete vor dem Publikum über seine erste Begegnung mit dem berühmten Conrad Veidt, seinem großen Vorbild. Über tausend Gäste hingen fasziniert an seinen Lippen, und keiner konnte sich von seiner Stimme lösen.
Längst hatte sich Christopher Lee von seinem Dracula-Schatten gelöst, war buchstäblich jedem Kind auch in Deutschland ein Begriff als Kato zum Beispiel in Astrid Lindgrens „Mio, mein Mio“, vor allem aber als Saruman der Weiße in Tolkiens Fantasy-Klassiker „Der Herr der Ringe“. Aber auch als Count Dooku in den neuen „Star Wars“-Verfilmungen, in denen auf Wunsch von Regisseur Georg Lucas mit echten Schwertern gekämpft werden musste. Ein solches Schwert wurde Christopher Lee schließlich aus der Hand geschlagen und lädierte für längere Zeit seinen Fuß.
Als wir später durch Schottland spazierten, war von körperlichen Problemen zum Glück nur noch wenig zu spüren. Christopher erging sich in Anekdoten aus seinem Leben und würzte diese mit eindrucksvollen Gesangszitaten aus Wagner-Opern: „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!“
Aber was sind „Star Wars“ oder Wotan gegen das wahre Leben, den großen Krieg, den der Offizier Lee vor 60 Jahren bis zum letzten Tag und noch danach erlebt hat; als er die Verbrechen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zu untersuchen hatte. Es ist noch immer eine der bittersten Erfahrungen in seinem Leben und zugleich ein brennend aktuelles Thema. Ich hatte deshalb in London einige Vorführungen von historischen Kinofilmen arrangiert, die wir beide dann diskutiert haben: „Der Untergang“; „Der Fall von Berlin“ in ungekürzter Fassung und mit dem Hitler-Darsteller Saweljew, der Bruno Ganz fast vergessen ließ; die beiden Arnold-Zweig-Adaptionen „Das Beil von Wandsbek“ mit dem großartigen Erwin Geschonneck von Falk Harnack und der neuen Version von Heinrich Breloer und Horst Königstein; sowie „Engel aus Eisen“ von Thomas Brasch. Allesamt auf ihre Weise filmische Ereignisse. Die Realität jedoch kann nur jemand ermessen, der sie bewusst erlebt hat. Und Christopher Lee ist in vielerlei Hinsicht ein Zeuge des vergangenen Jahrhunderts.
Jürgen Labenski ist Redakteur im Programmbereich Spielfilm des ZDF.