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die stimme der kritikBetr.: Börsenhysterie

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„Die Gründerzeit der New Economy könnte einen alten Traum Wirklichkeit werden lassen: den Volkskapitalismus, in dem jeder Aktionär ist.“ – Kaum hatte der einstige SPD-Vordenker Peter Glotz in der letzten Woche seinen schnittigen Leitartikel über die monetären Paradiese eines Volks der „Daxianer“ formuliert, da meldeten die Seismographen Dow Jones und Nasdaq, was der Kapitalismus davon hält, wenn sich das Volk seiner bemächtigen will. Der Dow verlor 5 Prozent an einem Tag, und der Technologie-Index verzeichnete den größten Einbruch seiner Geschichte – über 25 Prozent Verlust in einer Woche.

Und heute wird die Talfahrt nicht nur in Wallstreet, sondern auch London und Frankfurt mit ziemlicher Sicherheit weitergehen. Da hilft auch nicht, dass die Konjunktur so schlecht nicht läuft und selbst die deutsche Wirtschaft besser wächst als erwartet, denn mit der realen Ökonomie haben die Börsenkurse kaum noch zu tun. In den vergangenen 20 Jahren lag das Wirtschaftswachstum der Industrienationen bei etwa 60 Prozent, die Aktienkurse dagegen stiegen um mehr als 1.300 Prozent. Von einem Kurs/Gewinn-Verhältnis, dem wahren Wert einer Aktie, redet bei den Hightech-Papieren auch schon gar niemand mehr. Im aktuellen Preis für solche Aktien sind bereits sämtliche Jahresgewinne, so es sie denn gibt, bis zum Jahr 2150 enthalten.

Seit holländische Kaufleute im 17. Jahrhundert die Börse erfanden, hat es solche Spekulationsblasen gegeben: Der Anteilsschein für eine Tulpenzwiebel war 1637 so viel wert wie ein Amsterdamer Stadthaus, im 19. Jahrhundert waren es die Eisenbahnaktien, 1920 Immobilien und seit 1990 das Internet. Wir erleben eine klassische „Dienstmädchen-Hausse“: Knapp 10 Prozent der Bevölkerung haben T-Online-Aktien geordert. Doch kaum einer von ihnen wird sich wie die Profis gegen fallende Kurse mit Put-Optionen rückversichern. Wenn die Blase platzt, zahlt nur „das Volk“ die Rechnung. Der Einstieg in einen neuen „Volkskapitalismus“ aber könnte erst beginnen, wenn sie geplatzt ist und das Casino wieder Bodenhaftung hat. Das Dumme ist nur, dass dann das Volk, zumindest in USA, wo 50 Prozent der Haushalte Aktien besitzen, völlig pleite ist. MATHIAS BRÖCKERS

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