die stimme der kritik: Betr.: Clinton, Castro und Kohl
Anarchy as policy
Jeder kennt das Gefühl, etwas zu tun, was man eigentlich nicht tun will, aber doch tun muss. Man steht irgendwie unter Zwang und fühlt sich ferngesteuert. Man schlägt seine Kinder, stopft tonnenweise Schokolade in sich hinein oder wählt SPD.
Verbreitet ist dieses Phänomen des zwanghaften Verhaltens vor allem in der Politik. Bill Clinton hat Fidel Castro beim UN-Gipfel in New York die Hand gegeben. Die Geschichtsbücher werden diesen Handschlag als historisch vermerken. Zum ersten Mal seit 1959 haben sich ein amerikanischer Präsident und der kubanische Staatschef die Hände gereicht. Aber was machen Clinton und Castro? Sie tun so, als wäre nichts passiert. Das US-Präsidialamt hat den Handschlag zunächst geleugnet. Erst später gab Clinton zu, Castro begrüßt zu haben. „Es ist eben passiert“, sagte Clinton. „Ich drehte mich um und dann stand er da.“ Castro ließ im kubanischen Fernsehen sogar eine Erklärung zu der Begegnung verlesen. Clinton und er hätten sich in einem engen Raum nicht aus dem Weg gehen können. Clinton habe zwischen zwei Tischen gestanden und jeden begrüßt, der vorbeikam. „Ich konnte nicht mehr weglaufen“, so Castro.
Das hört sich nach billigen Ausreden an. Dabei gehört der Handschlag von Clinton und Castro ganz offensichtlich zu den Ausnahmen, die mit dem medizinischen Phänomen des „anarchistischen Armes“ zu erklären sind, bei dem menschliche Gliedmaßen plötzlich eigenmächtig handeln. Sergio Della Sala, Neuropsychologe an der Universität von Aberdeen, hat dieses Phänomen erforscht. Bisher waren eher bizarre Fälle bekannt geworden: Ein britischer Patient hatte mitten in der Nacht gegen seinen Willen versucht, sich selbst zu erwürgen. Einer Frau stopfte ihre anarchistische Hand Fischgräten in den Mund, bis sie würgte.
Vielleicht sollte man öfters politische Ereignisse unter dem Blickwinkel dieses Phänomens betrachten. Erst dann erklären sie sich schlüssig. Helmut Kohl zum Beispiel wollte sich gestern Nachmittag eigentlich Fischgräten in den Mund stopfen, erschien dann jedoch plötzlich in der Fraktionssitzung der Union. Er trug einen dicken Knüppel in seiner rechten Hand. Mit dem schlug er so lange auf Angela Merkel ein, bis diese Kohl wieder zum Ehrenvorsitzenden der Partei ernannte. Hinterher leugnete Kohl den Vorfall zunächst. Dann erklärte er lapidar, er habe sich nur umgedreht und plötzlich habe Merkel dagestanden. „Es ist eben passiert“, ließ Kohl im kubanischen Fernsehen mitteilen. JENS KÖNIG
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