die stimme der kritik: Betr.: Deutsche Leitkultur
Nie wieder Billy Mo!
In den 50er- und 60er-Jahren sind die beiden ehemaligen amerikanischen Soldaten Billy Mo und Gus Backus, die heute kaum noch jemand kennt, häufig im deutschen Fernsehen und in Festzelten aufgetreten. Gus Backus sang Texte wie: „Ich esse gerne Sauerkraut und tanze gerne Polka, und meine Frau, die Edeltraut, die tut’s genau wie ich.“ Bei seinen Auftritten trug er kurze bayerische Lederhosen und den besagten Hut. Billy Mo und Gus Backus waren die ersten Ausländer nach Hitler, die sich an der deutschen Leitkultur orientiert haben. Wollen wir so etwas heute wieder haben? Wollen wir, dass Ausländer in Deutschland künftig Lederhosen tragen und törichte Lieder singen? – Ich sage: Nein!
Deutsche Kultur, was ist das überhaupt? Das sind Schiller und Goethe, Letzterer ein arroganter Egozentriker. Das sind Bach und Beethoven, Letzterer ein musikalischer Radaubruder. Das sind Heidegger und Adorno, die ich beide nicht verstehe. Das sind Dieter Bohlen und Christian Anders, die ich gern nicht verstehen würde. Und es sind Menschen, die freiwillig eine Zeitlang in Containern leben und die so uninteressant sind wie die Romane von Hera Lind. Wir stellen fest: Die deutsche Kultur ist überheblich, laut, unverständlich, flach und langweilig. Und gelegentlich trägt sie Lederhosen.
Daran soll sich also der Ausländer orientieren. Meinen manche. Wo wir gerade ein wenig morbid sind: Irgendwann fährt der Deutsche nachts auf einer Landstraße besoffen gegen einen Baum. Diejenigen, die dies überleben, müssen Blumen neben den Baum legen. Und bereuen. Im Bereuen ist der Deutsche groß. Der Ausländer also, wenn er sich nicht totfährt, muss auch bereuen. Darüber hinaus soll der Ausländer Eisbein mit Sauerkraut und Erbspüree essen und viel Bier trinken. Am Feierabend, nachdem er sich das „Glücksrad“ angesehen hat, muss er sich eine Schallplatte mit dem Radetzki-Marsch anhören.
Gut, diese türkische Dudelmusik gefällt mir auch nicht, und, wäre ich in der Türkei am Arbeiten, wollte ich mir auch keinen Oberlippenbart wachsen lassen. Aber können wir unsererseits vom Türken verlangen, sich seinen Schnauz abzurasieren, wenn fast alle deutschen Polizisten einen tragen?
Das Dümmste an der deutschen Leitkultur aber ist, dass wir vom hier lebenden und arbeitenden Ausländer fordern müssten, dass er auf den Ausländer schimpft. Und das ist nun wirklich zu viel verlangt.
ANDREAS SCHEFFLER
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