die stimme der kritik: Betr.: Kettenbriefe
Mit aller geboteten Höflichkeit gegen Seine Heiligkeit
Viele schmunzeln vergnügt, wenn jemand den dicken Doktor mit Windbeuteln oder Cremeschnitten bewirft, doch nur wenige freuen sich über Kettenbriefe. Die sind schlecht beleumdet, im Prinzip abzulehnen und außerdem gesetzlich verboten.
Kein Wunder: Mit Kettenbriefen wird immer wieder allerlei Schindluder getrieben; man denke nur an das kleine portugiesische Mädchen, deren Fall Mitte der Neunzigerjahre durch die Presse ging. Sie war todkrank und sieben Jahre. Freunde der Eltern hatten ihr eine Freude machen wollen und einen Kettenbrief inszeniert, der dann aus dem Ruder lief. Tagtäglich machten 5.000 Briefe und Karten der Familie das Leben schwer. Ähnliches geschah einer englischen Familie, die daraufhin ohne Nachsendeauftrag umzog. Kommerzielle Kettenbriefaktionen gibt es natürlich sowieso, und neulich sollte ich für die Ehefrau irgendeines geflüchteten hohen Militärs eines in Auflösung befindlichen Staates ein Konto einrichten, auf dem Millionen geparkt werden sollten, von denen ich die Hälfte abgekriegt hätte.
Der quasi gewöhnliche Kettenbrief kommt allerdings eher schlicht daher: „Achtung! Dieser Text ist neunmal um die Erde gegangen. Jetzt ist das Glück zu Ihnen gekommen. Kopieren Sie den Text 20-mal und schicken Sie ihn weiter an Ihre Freunde. (...) Wenn Sie ihn nicht nach 96 Stunden weitergeschickt haben, kommt das Unglück zu Ihnen. (...) Constantina Diax zum Beispiel erhielt diesen Brief im Jahre 1953, kopierte ihn und gewann im Lotto. Carlo Daddii, ein Beamter, wartete zu lange, verlor prompt seinen Job, erschrak zu Tode, verschickte den Kettenbrief doch noch und fand gleich eine viel bessere Stelle“ usw. Ich kenne zwar niemanden, der Kettenbriefe für eine gute Sache hält, kriege aber trotzdem immer welche, und das Unglück wächst von Tag zu Tag.
Vor ein paar Tagen gab’s auch was vom Dalai Lama mit 19 Ratschlägen fürs Besserleben. Glück wurde versprochen, im Falle des Weiterleitens; mit Glücksentzug zu drohen, hat Seine Heiligkeit nicht nötig. Besonders lustig war der Ratschlag Nummer 16: „Once a year, go someplace you've never been before.“ Mit aller gebotenen Höflichkeit möchte man da als Westler doch einwenden: Kein geringer Teil unserer mentalen Verblödung rührt daher, dass jeder ständig meint, neue Orte aufsuchen zu müssen und in Sachen Reisen lieber Andy Warhol recht geben: „If you really want your life to pass like a movie in front of you, just travel, you can forget your life.“ DETLEF KUHLBRODT
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen