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die stimme der kritikBetr: Können, wollen, müssen

Die Freiheit der Arbeitslosen

Freiheit ist eine Frage des Standpunktes. Zum Beispiel der Gulag. Der einzig freie Ort in der Sowjetunion, so lautete ein geflügeltes Wort zu Stalin-Zeiten, sei der Gulag. Wer in den Arbeitslagern des Gulag steckte, konnte frisch und frei rufen: „Stalin ist ein Massenmörder!“ Es geschah ihm nichts weiter, er war ja schon im Gulag. Ist also frei, wer in Wirklichkeit unfrei ist, oder gilt als unfrei, wer in Wirklichkeit frei ist? Eine hochpolitische Frage – unweigerlich führt sie zu den Arbeitslosen.

Die deutsche Bevölkerung habe zunehmend den Eindruck, dass viele Erwerbslose gar nicht arbeiten wollten, so ergab unlängst eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach. 66 Prozent der Befragten in Westdeutschland und 40 Prozent im Osten äußerten die Vermutung, die Erwerbslosen könnten durchaus einen Job finden, wenn sie sich bemühten. Sieben Jahre zuvor hatten nur 39 Prozent der Befragten (Osten: 11 Prozent) dieser Aussage zugestimmt. In den vergangenen sieben Jahren hat sich also Bedeutsames ereignet: Immer mehr Arbeitslosen wird ein freier Wille zugetraut. Doch damit fängt der Ärger an. Denn Arbeitslose, so denken viele hart ackerende Beschäftigte, dürfen nicht allzu frei sein, wenn sie schon nicht arbeiten müssen. Womit man beim Zwang angekommen wäre.

Arbeitslose sollen künftig verstärkt ihren „Sozialpflichten“ nachkommen und angebotene Jobs annehmen, ohne allzu zimperlich zu sein, hieß es kürzlich im Bundessozialministerium. Worin die Botschaft steckt: Viele können, aber wollen nicht. Doch so einfach ist das nicht mehr im biologistischen Zeitalter. Denn wie sagt die neuere Hirnforschung des Bremer Naturwissenschaftlers und Philosophen Gerhard Roth: Jede vermeintliche Entscheidung des Menschen entwickelt sich aus der Vorgeschichte seines Gehirns. Das Gefühl, etwas zu wollen, tritt erst dann auf, wenn sich das Gehirn dazu schon entschieden hat. Man denkt, man will, aber in Wirklichkeit kann man gar nicht anders. Womit man beim Können wäre.

Liegt nicht auch Freiheit darin, wenn sich hoffnungslos Arbeitslose irgendwann mal einreden können, sie wollten keinen Job mehr, weil sie eine gut bezahlte Arbeit nicht mehr finden können? Wie in der Liebe: Wer mich verschmäht, den finde ich eben einfach auch ein bisschen doof. Das ist die letzte Freiheit: Wollen zu können, dass man etwas nicht will. Wer denkt da noch an den Gulag?

BARBARA DRIBBUSCH

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