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Archiv-Artikel

die peinliche lektion von REINHARD KRAUSE

Okay, ganz ohne Alkohol würde es nicht gehen. Aber schließlich sollte unser Privatkolloquium auch keine furztrockene Sache werden wie all diese Uniseminare für Examenskandidaten, bei denen wildfremde Kommilitonen ihre Forschungsfortschritte anpreisen. Für diesen Quatsch hatten wir in der Prüfungsphase wirklich überhaupt keine Zeit. Man müsste das mal, überlegten wir, ganz anders aufziehen. Und zwar so, dass man wirklich was fürs Leben lernt. Ein Kolloquium der Peinlichkeit!

Und so wurde es beschlossen. Christa lud zu einem Nachtmahl, und jeder sollte etwas Alkoholisches mitbringen sowie eine besonders heikle Episode aus seinem Leben – für den Vortrag vor unserem Plenum. Hihi, haha, hoho. Schnell noch ein großes Gläschen von dem scheußlichen Johannisbeerlikör.

Thomas sollte den Anfang machen. „Ta-daa!“, rief er und zog ein Skript aus seiner Tasche. „Meine allererste Hausarbeit. Über Gretchen!“ Erste beschwipste Heiterkeitssalven. Das grundstürzende Werk über Goethens armes Gretchen war ein Knaller, geschrieben mit dem Herzblut eines jungen Menschen und voller Abscheu über die Verdorbenheit der Welt. Leider kann ich mich nicht mehr an Details erinnern, auf jeden Fall aber endete der Aufsatz mit dem völlig unwissenschaftlichen, aber vortrefflichen Satz: „Ich finde, Gretchen ist eine bewundernswerte Person.“ Frenetischer Jubel brandete auf, „Köstlich!“-Rufe wechselten sich ab mit Fragen wie „Und dafür hast du einen Schein bekommen?“

Als sich die Stimmung wieder etwas beruhigt hatte, war Christa fällig. „Ich“, druckste sie herum, „bin manchmal peinlich schwer von Kapee.“ Zum Beweis erzählte sie, wie sie einmal am Mensafließband gewartet hatte und ein Student aus dem arabischen Sprachraum so dicht hinter ihr aufschloss, dass sie nur noch denken konnte: „Diese Menschen haben offenbar einen ganz anderen Nähebegriff.“ Die Freundin, die sie begleitet hatte, sah die Sache allerdings klarer: „Mensch, Christa, dem hätte ich vielleicht eine gescheuert. Das war ja Petting ohne Hände!“ Gute, brave Christa!

Nun war die Reihe an mir. Ich hatte etwas ganz Schlimmes mitgebracht, ein Gedicht, das ich in spätadoleszenter Schwärmerei ersonnen hatte. Herrje, noch ein Sektchen? Das Poem handelte von einem jungen Mann, dessen nähere Bekanntschaft mir offenbar einmal ungemein erstrebenswert erschienen war. Jede Strophe endete mit der traurigen Zeile „Er wird nicht kommen“. Erstaunlicherweise mussten die anderen gar nicht lachen. Mit rotem Kopf und glühenden Öhrchen las ich weiter, tiefer und tiefer hinein ins unerfüllte Verlangen tauchend. Puh! „Ich weiß es genau“, las ich mit belegter Stimme, „er wird … nicht kommen.“ Eine kleine pathetische Pause, dann las ich die letzte Zeile: „Gut! Ich werde nicht warten.“ Befreites Gekreisch. „Welche Wendung!“ – „Lyrik, die ihren Anlass überwindet!“ Uff, geschafft!

Jetzt fehlte nur noch Gnom. Die verschwand kurz, war aber gleich wieder da, mit schiefem Gang, einem Hütchen auf dem Kopf und eine Tigerente hinter sich her schleifend. Zur Untermalung blies sie in eine Tröte. Wir anderen starrten erst sie an, dann uns. Das war ja gar nicht lustig, das war ja – voll peinlich!