die letzte ruhe vor dem sturm (teil 5 und schluss) : Roteiro ist keine runde Sache
Die EM hat noch nicht begonnen, aber falls etwas schief gehen sollte, ist der Schuldige schon gefunden: der Ball
Endlich geht sie zu Ende, die wohl gespenstischste Woche des Jahres. Eine Woche lange wurde nur über Fußball geredet, gespielt wurde indes nicht. Kein Montagsspiel in Liga zwei, kein Nachholspiel in der Regionalliga Süd zwischen zwei abgehalfterten Traditionsmannschaften, kein Qualifikationsspiel für den Uefa-Cup zwischen zwei Vereinsmannschaften aus Moldawien und Georgien. Nichts. Auch die Vorbereitungsspiele der EM-Teilnehmer sind lange gelaufen. Eine Woche fußballfreie Zeit unmittelbar vor dem Höhepunkt des Fußballjahres. Und doch drehten sich die Gespräche um den Ball. Um Roteiro. So heißt das neueste Erzeugnis aus dem Hause Adidas. Es ist der für die EM entwickelte Ball, der – wie könnte es anders sein – alles in den Schatten stellen soll, was bis dato auf einem Fußballplatz getreten worden ist. Die Meinungen über das neue Rund gehen weit auseinander. Die einen sprechen von einem Superball, für die anderen ist er so gut wie unspielbar.
In der Bundesliga wurde Roteiro bereits eingesetzt. In ganz normalen Spielen, die ganz normal aussahen und in denen ganz normale Tore gefallen sind. Dennoch machte schon damals so mancher Experte merkwürdige Beobachtungen. Jürgen Kohler sprach davon, dass der Ball sich wie eine fliegende Untertasse verhalte, und zertrümmerte mit dieser Bemerkung das alte Herberger’sche Diktum, wonach der Ball rund ist. Andere sagten schon seinerzeit, dass sie Roteiro super fänden. Begeistert waren vor allem Spieler, die bei der Firma unter Vertrag stehen, die den Ball hergestellt hat. Wer vermutet, dass dies kein Zufall ist, könnte durchaus Recht haben. Pech für die Adidasler unter den Nationalspielern. Wenn die Pässe nicht ankommen, die Ballannahme nicht so recht klappen will, dann können nur die Spieler ihre Fehlleistungen auf Roteiro schieben , die nicht bei den Herzogenaurachern unter Vertrag stehen.
Ob nach der EM überhaupt noch jemand von Roteiro sprechen wird? Wenn die Dreistreifenmänner Zinedine Zidane, David Beckham und Michael Ballack tatsächlich überragend agieren sollten, dann wird wohl niemand sagen, dass das kein Wunder sei, schließlich hätten die drei mit dem neuen Roteiro gespielt. Und auch den Rumpelfüßlern unter den Kickern wird kaum einer die Ausrede „Der Ball war schuld“ durchgehen lassen.
In deutschen Publikationen heißt es derzeit eher: „Nowotny ist schuld.“ Der gilt als größter Problemfall im deutschen Team. Kein Wunder. Wer hätte nicht Angst, wenn nach zwei Kreuzbandoperationen eine fliegende Untertasse auf sein Knie zurasen würde? Dennoch wird Nowotny wohl spielen müssen.
Wenn es nun wirklich stimmen sollte, dass nur die Spieler, die einen persönlichen Werbevertrag bei Adidas unterschrieben haben, mit Roteiro guten Fußball spielen können, dann droht der spielerische Offenbarungseid Fußballeuropas. Denn einen derartigen Kontrakt dürften die wenigsten Spieler haben. Mit Grausen erinnert sich die Fußballgemeinde noch an die Europameisterschaften der Jahre 1980 und 1992. Bei den Turnieren in Italien und Schweden war das fußballerische Niveau der Partien bisweilen derart bescheiden, dass sich Experten wahrhaft Blatter’sche Gedanken über Regeländerungen gemacht haben. Einer (Christoph Daum) schlug vor, nur noch mit neun Feldspielern agieren zu lassen, ein anderer (Willy Lippens), Spiele, die 0:0 enden, erst gar nicht zu werten. Darauf, dass an dem armseligen Gekicke der Ball schuld sein könnte, ist seinerzeit niemand gekommen.
ANDREAS RÜTTENAUER