die kopftuchdebatte in berlin (teil 7) : Havva Engin hofft auf einen intensiven Lernprozess
Die Angst vor dem Kopftuch ist groß
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass muslimischen Lehrerinnen das Unterrichten mit Kopftuch nur per Landesgesetz untersagt werden kann. Innensenator Körting (SPD) will nun per Gesetzesnovelle das Kopftuch gleich aus dem gesamten öffentlichen Dienst verbannen. Havva Engin, türkische Vertreterin im Integrationsbeirat, macht falsch verstandene Neutralität aus.
In Deutschland ist die Angst vor dem Kopftuch groß. In manchen Bundesländern – zu diesen zählt Berlin – scheint die Angst besonders groß zu sein. Wie sonst lässt sich der vorschnelle Vorstoß von Innensenator Körting nach einem Verbot des Kopftuchs im öffentlichen Dienst deuten? Ohne eine öffentliche Diskussion und Anhörung soll ein Gesetz von oben klare Verhältnisse schaffen.
Körtings Begründungen konzentrieren sich auf zwei Bereiche:
– Schutz von nicht Kopftuch tragenden „modernen“ Muslima vor dem Druck „bekopftuchter“ Muslima;
– das Neutralitätsgebot von Staat und Schule.
In meinen Augen sind beides vorgeschobene Gründe, die den Kern der Sache ausblenden. Es ist müßig an dieser Stelle zu wiederholen, dass Muslima aus vielfältigsten kulturellen und sozialen Gründen auf das Kopftuch nicht verzichten wollen – ohne dass diesem Kleidungsstück per se eine Ideologie innewohnt. In einer demokratisch pluralen Gesellschaft sollte man diesen Tatbestand akzeptieren können und Kopftuch tragenden Frauen nicht im Vorgriff eine islamistische Gesinnung unterstellen. Der Hinweis von Herrn Körting auf die Neutralitätspflicht von Staat und Schule suggeriert der Öffentlichkeit, dass wir es in Deutschland bisher mit einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu tun haben, die beibehalten werden soll. Es ist daran zu erinnern, dass in Deutschland mit Hilfe des Staates Kirchensteuer eingetrieben wird, viele soziale Einrichtungen sich in kirchlicher Trägerschaft befinden und nicht zuletzt Religionsunterricht ordentliches Unterrichtsfach an deutschen Schulen ist, das grundgesetzlichen Schutz genießt.
Was in Deutschland unter Neutralität zu verstehen ist, sagt das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Kopftuch: „Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebietet auch im positiven Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern.“
Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft geworden und Berlin stellt eines der besten Beispiele für entstandene kulturelle und religiöse Vielfalt dar. Daher lautet für mich die zentrale Frage in der Debatte: Inwieweit ist die von jüdisch-christlichen Traditionen geprägte Mehrheitsgesellschaft bereit, sich als eine religiös plural gewordene Gesellschaft zu verstehen und dies auch in den wichtigsten staatlichen Institutionen wie der Schule zum Ausdruck zu bringen? Konkret: Sind wir als Gesellschaft bereit, staatliche Bedienstete mit einer Kleiderordnung, welche den abendländisch christlichen Traditionen und Werten nicht entspricht, zu tolerieren?
Will man – aufgrund der zunehmenden kulturellen und religiösen Ausdifferenzierung der Gesellschaft – den Staat, seine Institutionen und seine Bediensteten konsequent religiös neutral halten, so wie es in Frankreich der Fall ist, so ist zu überlegen, ob in Deutschland nicht die Zeit gekommen ist, zu diskutieren, welchen Platz Religionen und religiöse Symbole im öffentlichen Raum künftig einnehmen sollen.
Entsprechend des vom Bundesverfassungsgericht eingeforderten „Gleichheitsgebots“ müssen sich die Vertreter aller Parteien, Religionsgemeinschaften und Migrantenorganisationen aktiv an diesen Diskussionen beteiligen. In Einwanderungsgesellschaften meint der Begriff der Integration die Ermöglichung der gleichberechtigten Teilhabe aller Bürger an dem Leben in dieser Gesellschaft. Deshalb müssen wir die schon seit Jahrzehnten überfällige Diskussion über die Frage beginnen, welche Gesellschaft wir in Zukunft sein wollen und an welchen rechtlichen, kulturellen, religiösen Prämissen sich Deutschland orientieren soll. Dies wird für alle Beteiligten ein intensiver und emotionsgeladener Lernprozess werden, da viele Missverständnisse und Stereotype auszuräumen und berechtigte Ängste zu nehmen sind. HAVVA ENGIN
Die Autorin ist türkische Vertreterin im Integrationsbeirat und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der TU Berlin