die jazzkolumne : Eine Begegnung mit der Jazzsängerin Shirley Horn
Details eines Lebens
Die Klimaanlagen tropfen die Stadt voll, die Leute reden von Sommergrippe. Shirley Horn wohnt wie fast jedes Jahr für einige Tage in einer Hotelsuite mit Blick auf den Central Park. Doch dieser Sommer ist anders. Ernste Probleme mit dem rechten Fuß zwingen sie in einen Rollstuhl, ihr langjähriger Bassist und Begleiter, Charles Ables, starb und ihr Plattenvertrag ist gekündigt. „May The Music Never End“ heißt die gerade erschienene (und letzte für das Traditionslabel Verve) CD der großen afroamerikanischen Sängerin, die im nächsten Jahr 70 wird.
Dass sie ihre neue CD mal wieder selbst produziert hat, ist für sie kaum der Rede wert. Man mietet ein Studio und engagiert ein paar gute und zuverlässige Musiker, die Stücke bringt sie mit. Das größte Problem bei der neuen CD war, dass sie sich nicht mehr selbst am Klavier begleiten konnte. „Wenn ich am Klavier sitze“, so beschreibt Horn ihr Gefühl für ihre unendlich wirkende Langsamkeit, „fange ich einfach an zu singen. Stimme und Klavier folgen einander und ergänzen sich. Ich bin eine stille Person. Ich habe mir viele Sänger und Sängerinnen angehört, und ich habe oft das Gefühl gehabt, dass manchmal zu viel Krach im Hintergrund ist. Ich mag es, wenn mein Publikum ganz still ist und hören kann, was ich ganz leise und langsam erzähle.“
Klavierspielen hatte sie damals noch im Hause ihrer Großmutter gelernt, mit zwölf begann sie Jazz zu mögen und kopierte die Soli von Erroll Garner Note für Note. Mit 17 trat sie schon in den lokalen Clubs auf, und eines Tages begann sie auch zu singen. „Ich erinnere mich gut an meine Kindheit in Washington – die Familie und alle meine Leute liebten Musik. Meine Mutter sang die ganze Zeit, und ich war umgeben von der besten Musik. Ich sog die Songs, die ich später singen sollte, förmlich in mich auf, ohne dass es mir damals groß bewusst war. Musik gehörte eben zu den alltäglichen Selbstverständlichkeiten, über die man nicht weiter nachdenkt. Wenn mir später dann eine Melodie wieder in Erinnerung kam, rief ich meine Mutter an, und sie summte mir den Rest des Stückes am Telefon vor. Meine Mutter war somit verantwortlich für 75 Prozent meines gesamten Repertoires.“ 1960 entdeckte Miles Davis sie, holte sie nach New York, und bat sie, drei Songs aus ihrem Repertoire, darunter ihre Version des „Basin Street Blues“, für seine Platte „Seven Steps To Heaven“ aufnehmen zu dürfen. Nach einer zwölfjährigen Plattenpause, während der sie sich um die Erziehung ihrer Tochter kümmerte, nahm Shirley Horn Ende der Siebzigerjahre zunächst für das dänische Steeple Chase Label auf, seit 1987 war sie dann bei Verve unter Vertrag. Heute äußert Horn sich enttäuscht darüber, dass weder ihre Tochter noch ihre beiden Brüder, noch ihre Enkelkinder mehr mit Musik zu tun haben.
Ihre eigene Karriere als Sängerin begann gegen große Widerstände. „Ich werde nie vergessen, als eines Abends meine Eltern im Club auftauchten, um mich zu hören. Und ich sang gerade Cole Porters ‚Love For Sale‘. Später kam meine Mutter zu mir und schaute mich an – ihre Augen waren voller Enttäuschung. Sie konnte es nicht fassen, dass ich so ein Stück singe. Ich habe es dann bestimmt zehn Jahre nicht mehr angerührt. Meinen Vater hat es übrigens nicht gestört, er war immer cool. Aber dieser Song kann eben auch eine ganz andere Bedeutung haben. Der Minister unserer Kirchengemeinde in Washington bat mich eines Tages, bei einem Gedenkgottesdienst für einen unserer Musiker ein Stück zu singen, und er wünschte sich ,Love For Sale‘. Ich sagte ihm, dass ich das doch nicht tun könnte, aber er ermutigte mich – also sang ich. Es ist wirklich ein ganz besonderes Lied. Heute verstehe ich übrigens, warum meine Mutter damals so reagiert hat.“
Als Betty Carter starb, war Shirley Horn auf einmal die Überlebende unter den großen Sängerinnen. Und „Here’s to life“ ist ihre Hymne: „There is no yes in yesterday and who knows what tomorrow brings or takes away.“ Im Village Vanguard, im heißen New Yorker Sommer vor vier Jahren, war sie ganz Grande Dame im festlichen Kostüm mit Handschuhen, souverän, intim, guter Dinge. Später backstage, das ist Lorraine Gordons Büro, schaute der Pianist Kenny Barron nach ihr, dankend.
„Für mich steht der Text eines Liedes im Vordergrund“, kommentiert Horn den für sie geschriebenen Titelsong ihres neuen Albums, „ich kann mit der Melodie viele schöne Sachen machen, wenn die Geschichte stimmt. Ich möchte, dass mein Publikum mit meinen Augen sieht. Viele Sänger wissen gar nicht, was die Texte bedeuten, die sie singen, deshalb fehlt vielen Interpretationen der so genannten Standards das richtige Gefühl. Der Text eines Songs sollte so natürlich wie möglich vorgetragen werden, so natürlich wie eine Unterhaltung. Ich bin ein langsamer Erzähler, also lasse ich mir auch beim Phrasieren Zeit.“
Stanley Crouch, der streitbare Publizist, hat die Liner Notes zur neuen Horn-CD geschrieben. Horn schätzt Crouch als Persönlichkeit, auch wenn sie nicht immer mit ihm einer Meinung sei. Oft haben sie sich nach ihren New Yorker Konzerten auf einige Cognacs getroffen und geredet. Dass die Kontroverse um einige Crouch-Kolumnen (s. Jazzkolumne, taz vom 21. 5. 2003) in diesem Sommer nun doch zu einer größeren Geschichte über die Präsenz schwarzer Kritiker in den US-Medien geworden ist, wundert Horn nicht. „Der Song zählt“, sagt Horn auch im Hinblick auf die von ihr gemochte Rhetorik eines Stanley Crouch. „Finde deinen Song, und höre nicht auf, ihn zu singen.“
CHRISTIAN BROECKING