die jazzkolumne : Ein Stück kann zwei Stücke sein
Mit dem „Third Stream“ versuchte Gunther Schuller einst, Klassik und Jazz zu verbinden. Nun hat er mit Joe Lovano eine Platte gemacht
Ganz aus dem Stegreif wurde ja gar nicht improvisiert, sagt Gunther Schuller. Mit den Kompositionen im Jazz ging es erst nach dem Zweiter Weltkrieg los, und seitdem sind sie sukzessive ins Zentrum gerückt, ohne dass Improvisation ausgeschlossen wird. Es gehe jetzt um ein gleichrangiges Verhältnis zwischen Komposition und Improvisation. Mit dem Begriff „Third Stream“ wollte Schuller die Veränderung beschreiben, die in der Musik geschah – dass man etwas Atonales schreibt und es durch die Aufführung Jazz wird, durch die Betonung, Phrasierung. Es könne aber auch sein, dass dasselbe Stück von klassischen Musikern gespielt wird und es dann kein Jazz ist. Schuller spricht hier von einer neuen Erscheinung, die es bis vor fünfzehn, zwanzig Jahren noch gar nicht geben konnte: „Aber die beiden Ströme sind so weit zusammengekommen, dass wir jetzt einen großen breiten Strom haben.“
In der Woche vor seinem 80. Geburtstag wurde Schuller am New England Conservatory in Boston, Massachusetts, groß gefeiert, die Konzertreihe „I Hear America“ galt jenem Künstler, der das Konservatorium von 1967 bis 1977 geleitet hatte. Schuller wurde am 22. November 1925 als Sohn deutscher Emigranten in New York geboren und wuchs zweisprachig auf. Mit Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono war er befreundet, mit ihnen stritt er in den Fünfzigern bei den Darmstädter Ferienkursen über politische Musik. Obwohl Nono Kommunist war, höre er dessen Musik bis heute als sehr liebevoll und warm, sagt Schuller. Er glaube nicht an politische Musik, die Hauptsache sei, was in der Partitur steht.
Drei Wochen nach seinem 80. war Schuller in einem New Yorker Studio und dirigierte die von ihm arrangierte „The Birth of the Cool Suite“ mit dem herausragenden Ensemble des Saxofonisten Joe Lovano. Eigentlich war es eine Auftragsarbeit für das Monterey Jazz Festival 2001 anlässlich des 75. Geburtstags von Miles Davis, die aber damals wegen der Anschläge am 11. September nicht zur Aufführung kam. Fünf Jahre später ist sie nun bei Blue Note auf der Joe-Lovano-CD „Streams of Expression“ erschienen, mit der Lovano zudem allen dankt, die ihn zu seiner musikalischen Lebenswelt inspiriert haben, von Gunther Schuller bis Ornette Coleman, von John Coltrane bis Ben Webster, von Cecil Taylor bis Gil Evans.
Bei zwei Kompositionen, „The Fire Prophets“ und „Big Ben“, stellt Lovano auch ein „revolutionäres“ Instrument vor, das der Instrumentenbauer Francois Louis für ihn entwickelt hat. Lovano bezeichnet das Aulochrome als das weltweit erste polyphonisch-chromatische Saxofon, es sieht aus wie zwei Sopransaxofone, die mit einem gemeinsamen Mundstück gespielt werden, und es erlaubt ihm, ganz neue Sounds zu kreieren. Die hören sich zunächst wie eine Mischung aus verirrtem Bienenschwarm und jungem Pharoah Sanders an, bis dann die Maschine abhebt: aggressiv, wild und sehr spröde auch.
Der 1952 geborene Lovano ist, auf höchstem Niveau, dafür bekannt, auf die Kommunikationsstrukturen der Jazz-Community zu setzen, einer Musikergemeinschaft, in der man von den Erfahrungen der anderen lernen und sich inspirieren lassen kann. Zu seinem engeren New Yorker Kreis gehören die Mitglieder seines Nonetts wie der Altsaxofonist Steve Slagle und der Trompeter Tim Hagans. Auch der kürzlich verstorbene Pianist John Hicks zählte zu Lovanos Verbündeten, in „The Fire Prophets“ brilliert er in den tiefen Registern. Wer Jazz spielt, braucht viel Liebe für die Musik, sagt Lovano, die Essenz des Jazz bestehe darin, ständig neue Ideen zu entwickeln, Kreativität habe sehr viel mit einer Klarheit der Gefühle zu tun.
Lovano beschwört vor allem den Freiheitsgrad, den die Plattenfirmen auch jüngeren Musikern zugestehen sollten. Er ist bei Blue Note unter Vertrag und seine Musik klingt so gar nicht nach der aggressiven Marktorientierung vieler Vocal- und Smooth-Jazz-CDs der letzten Jahre. Das Leben nach dem Retro-Bop habe längst begonnen, die Zukunft des Jazz liege vollkommen in der Hand der Musiker, ihrer Vorstellungskraft und Inspiration, resümiert der vielfach ausgezeichnete Saxofonist. Wer die Möglichkeit hat, eine CD aufzunehmen, sollte sie so nutzen, als ginge es ums Ganze. Wenn die Plattenfirmen einen rausschmeißen, bleibe nur die eine Frage: ob die eigene CD überleben wird. Ob sie so gut ist, dass man noch dazu stehen kann, wenn die mageren Jahre kommen.
So betrachtet sieht er nicht nur Nachteile in der gegenwärtigen Marktentwicklung. Das sei sogar das Beste, was einigen jungen Cats passieren kann, Jazzmusiker nennen das paying dues. Entsprechend macht Lovano strategische Aufnahmen, und weil diese Platten den Künstler positionieren, hat er auch gute Jobs und viele Tourneen. Die wirklich kreativen Musiker werden überleben, sagt Lovano aus Erfahrung: Improvisieren auf Grundlage des eigenen ethnischen Backgrounds und des Jazzvokabulars, darin liege die Zukunft.
Schuller spielte schon 1949/50 bei den Original-„Birth of the Cool“-Sessions von Miles Davis mit, und er hat immer behauptet, dass man durch die Analyse solcher Meisterwerke erfahre, dass sie mit Beethoven auf derselben Höhe stehen. Kreativ, was Innovation und Erfindung angeht – es sei nur ein anderer Stil. Die neue Dimension gehe über das bloße Nachahmen weit hinaus. Mit Lovano gelang ihm nun etwas Neues, etwas, was damals nicht hätte entstehen können.
CHRISTIAN BROECKING