die gelben seiten : Volksfreude versus Volkswut
„Je lauter der Jubel in den Olympiastadien, desto klangvoller kracht es gleichzeitig an den Börsen!“
„Alles kann China herstellen, nur eines nicht, das im Leben am allerwichtigsten ist: ein fröhliches Volksfest“, schreibt Künstler Ai Weiwei in seinem Blog bei www.sina.com über die Spiele. Beweise findet der prominente Ideengeber für das Olympiastadion „Vogelnest“ online: ein Foto von dem berühmten Künstlerviertel „Fabrik 798“, das von Polizeiwagen dominiert wird; wieder ein Foto, das Chinesen mit Mundschutz vor dem Tiananmenplatz zeigt, versehen mit dem Hinweis: „Kannst du sehen, ob sie lächeln, lachen oder ihre Mundwinkel nach unten ziehen?“
Die meisten Belege finden sich auf der offiziösen Website „bbs.people.com.cn“, jenem Diskussionsforum des KP-Organs Die Volkszeitung. Dort wogt seit Tagen eine buchstäbliche Volkswut, darüber, dass chinesische Börsen in Schanghai und Shenzhen am Mittwoch von über 6.000 Punkten bis unter 2.400 gerauscht sind. Die Wut ist alt. Neu aber: Die Wut konterkariert direkt die „Volksfreude über die Spiele“, wie die Volkszeitung in dicken knallroten Drucklettern feststellt: „Volksfreude? Bin Mitglied des Volks, des Börsenvolks. Wer gibt mir einen Grund, mich zu freuen?“ – „Je lauter der Jubel in den Olympiastadien, desto klangvoller kracht es an den Börsen. Langsam habe ich den Verdacht, dass der Index bis auf haargenau 2.008 Punkte herunterpurzeln muss, sonst würden die Spiele eben nicht perfekt!“ – „Shang Fulin (Vorsitzender des Rates zur Aufsicht des Wechselhandels), geh die Nationalmannschaft für Wassersprung coachen, auf dass die Sportler so im freien Fall hinunterfliegen wie die Kurse, so wenig spritzen, wenn die im Nichts verschwinden, wie Zigmillionen Kleinanleger!“ Besonders ketzerisch: „Wenn unsere Regierung alles tut, um die Spiele zu retten, nicht unser Geld, dann müssen wir es selber tun! Diese Regierung taugt nichts!“ Ein Novum besonderer Art: All die Kommentierungen zum Thema „Volksfreude versus Volkswut“ sind seit ihrem Erscheinen online zu lesen. Auch auf der Blogseite von Ai Weiwei.
„Ob alle, die gegen Entgelt für die Propaganda die Stimmung im Internet lenken, heute selber in den Stadien sitzen und sich freuen?“, fragt einer und fügt hinzu: „Schön wär’s!“ SHI MING
Shi Ming, 51, kommt aus Peking und lebt als Journalist in Köln