die dritte meinung: NGO verteilen keine Visa an Menschen aus Afghanistan,stellt Martin Sökefeld klar
Vonseiten der Union und der Springer-Presse heißt es immer wieder, Nichtregierungsorganisationen (NGO) hätten Afghan*innen für das Bundesaufnahmeprogramm (BAP) ausgewählt. Das klingt fast so, als hätten NGO freigiebig Visa für Deutschland verteilt. Gerade sagte Thorsten Frei, designierter Kanzleramtsminister, im Interview mi dem Spiegel: „Wir halten nichts davon, dass Menschen, die überhaupt keinen Bezug zu Deutschland haben, von Nichtregierungsorganisationen für eine Einreise ausgewählt werden.“
Man muss es immer wieder klarstellen: NGO waren nur die erste Anlaufstelle, wo sich gefährdete Menschen aus Afghanistan, die nach der Machtübernahme der Taliban dringend das Land verlassen mussten, melden konnten. NGO, die sogenannten „meldeberechtigten Stellen“, prüften deren Gefährdung auf Plausibilität und stellten Dossiers zusammen, die dann an die vom Bundesinnenministerium (BMI) eingerichtete BAP-Koordinierungsstelle weitergegeben wurden. Die eigentliche Auswahl und erst recht die Visa-Verfahren führten Behörden durch. Mit neoliberalem Vokabular könnte man das als Public-Private-Partnership (PPP) bezeichnen. Tatsächlich hat das BMI Aufgaben outgesourct und spart sich die mühevolle Detailarbeit mit den gefährdeten Afghan*innen. Die Union ist ja PPP-Fan, beispielsweise beim Autobahnbau, selbst wenn die Kosten regelmäßig explodieren. Und hier liegt der entscheidende Unterschied zum BAP: Die NGO haben die Arbeit für das BMI konstenlos getan. Dafür, dass sie Gefährdungslagen und Biografien überprüften, Unterlagen zusammenstellten, die „Fälle“ in tagelanger Kleinarbeit aufbereiteten, bekamen sie von der Regierung keinen einzigen Cent. Finanziert wurde das aus Eigenmitteln der Organisationen, letztlich aus Spenden. Durch die NGO-Arbeit hat die Bundesregierung also jede Menge Geld gespart. Das sollte anerkannt werden.
Martin Sökefeld
ist Afghanistanexperte und Professor am Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Übrigens haben die meldeberechtigten Stellen auch viele Afghan*innen abgewiesen, deren Gefährdungslage nicht eindeutig genug belegt werden konnte.
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