die Wahrheit: Lumpen und Labskaus
Es ist das Jahr 1632. Auf dem alten Kontinent tobt der Dreißigjährige Krieg ...
... Befeuert von verlogenen Manövern und konfessionellen Finten wechselt das Kriegsglück fast täglich hin und her. Da zieht es viele Landsknechte und Tagelöhner in die Hafenstädte, um die nackte Haut zu retten. In Antwerpen liegt Anfang August die „Santa Multibionta“ vor Anker und sucht dringend eine neue Besatzung.
Da kommen ihrem Käpt’n Burnout die vielen deutschen Flüchtlinge gerade recht. Per Handschlag geht’s an Bord, das Reiseziel ist allen völlig schnurz. Und keiner ahnt, dass es sie auf eines der berüchtigsten Piratenschiffe verschlagen hat. Nicht einmal das satte Lachen des Kapitäns, kaum das der Anker gelichtet ist, macht die Besatzung stutzig.
Die ersten Zweifel kommen einigen, als in der Abenddämmerung des zweiten Tags an Bord zum Deckappell geläutet wird. Der Kapitän lässt seinen Haufen nach Stimme geordnet antreten, hebt einen baumlangen Walknochen in die Höhe und beginnt zu dirigieren. Den Liedtext gibt der erste Steuermann aus dem Krähennest vor und fängt an zu brüllen: „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord …“ Unter der Crew setzt eisiges Schweigen ein, den meisten schnürt es den Hals. „Wie bitte? Was …?“, fährt es ihnen durch den Kopf und viele stellen die Frage offen: „Pest??! Hier an Bord.
Und was ist, bitte schön, Madagaskar? Wir sind doch in Antwerpen losgefahren?“ – „Papperlapapp!“ fährt Käpt’n Burnout dazwischen und lässt den Dirigentenstab auf die erste Reihe niederfahren. „Das wird auf jedem Piratenschiff gesungen! Wenn ich dann mal die Baritöne unter euch Gesindel um den Kammerton a bitten dürfte …“ Die Angesprochenen sind aber schon vor dem Ende der Aufforderung zum Teil unter Deck geflüchtet oder haben sich hinter einem Mast versteckt. Mit Piraterie will keiner was zu tun haben.
So knapp dem Krieg entronnen, fühlen sie sich vom Regen in die Traufe geraten und vor die Wahl zwischen Pest und Cholera gestellt. „Na gut“, fährt der Käpt’n drohend fort, „dann ist für morgen Labskaus vom Mittagstisch gestrichen! Verpisst euch, elende Bande! Und bis morgen lernt ihr alle ’Wenn die bunten Fahnen wehen‘ auswendig. Und wehe, ich höre Textuntiefen!“
Die Nacht verläuft entsprechend unruhig. Aus den vierstöckigen Hartfaserbetten ist bis zum Morgengrauen ein ängstliches Tuscheln zu vernehmen. Mit dieser jähen Wendung in ihrer aller Zukunftsplanung hat niemand gerechnet und Josef Möllenstroth aus Telgte bringt es auf den Punkt: „Was für eine verlogene Welt! Da kommt man einmal im Leben über Osnabrück hinaus und schon geht die Scheiße weiter. Warum spielt denn keiner mehr mit offenen Karten? Und was in diesem verdammten Labskaus alles drin ist, hat uns bislang ja auch kein Schwein verraten!“
Und mit diesen Worten geht es in den nächsten Tag, als die „Santa Multibionta“ schon an den Kanalinseln entlangstreift. Natürlich steht schon vor dem Bordfrühstück der Kapitän mit seinem knöchernen Taktstock an Deck und will nun das angesagte Seemannslied hören. „Könnt ihr wohl den Text, ihr Lumpen? Für die erste Zeile habe ich euch als kleine Hilfe die Länderflaggen zwischen den Masten aufziehen lassen. Und Wind ist ja genug da, damit ihr merkt, was Sache ist!“
Wieder ist es der tapfere Westfale Möllenstroth, der eine Gegenfrage wagt: „Aber Käpt’n! Wenn wir schon Piraten sind, dann müsste doch eigentlich diese schwarzweiße Schädelflagge mit den gekreuzten Knochen da oben wehen. Wäre doch eigentlich fair und transparent!“ – Zack! hat er den Taktstock zwischen seinen Ohren. „Ich gebe dir gleich Transparenz, du Westfalenschädel! Was glaubst du denn, wie wir uns beim Entern den Handelsschiffen nähern? Etwa mit Transparenz und Fairness? Ha, ha, ho!“
Da kommt dem tapferen Möllenstroth sein badischer Kumpane Pfleiderer zu Hilfe, der das Kochhandwerk gelernt hatte: „Und wir würden auch gerne die Ingredienzen von Ihrem Labskausfraß wissen, einschließlich der Zusatzstoffe und Vitamine. So was kriegen in Baden-Baden ja nicht einmal die Schweine!“
Da beginnt der Kapitän zu toben: „Was hör ich da? Du willst baden?“ Und schon hat er den aufmüpfigen Burschen am Gesäß gepackt und über die Reling verfrachtet. Aber er hat nicht damit gerechnet, dass er mit dieser Tat den Auftakt zur Meuterei liefert, die ihn in Windeseile ebenfalls dem Meere anvertrauen ließ. Zweistimmig gellen die Hilferufe aus den Wogen des Atlantiks, denn schwimmen können alle beide nicht.
Sollte die verbliebene Besatzung nun den einen einholen und den andren nicht? Da hat der Kapitän, wohl zum ersten Mal in seinen Leben, die rettende Idee und bietet den Widerspenstigen an Bord an, in Zukunft bei allen Entscheidungen die eingeforderte Transparenz walten zu lassen, wenn man ihn nur leben ließe, und weist noch aus dem Wasser den Smutje an, alles, aber auch alles aufzuzählen, was er in sein Labskaus schmeiße.
Und es ist abermals der Pfleiderer aus Baden-Baden, der ruft: „Und vergiss auch Kapern nicht! Denn wozu das machen, was man viel besser essen kann!“ Und dem ist bis auf den heutigen Tag eigentlich nichts hinzuzufügen …
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“