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der rote fadenAlles versprechend und brutal schnell vorbei

Foto: Jan Schmidbauer

Durch die Woche mit Johanna Roth

Das letzte Mal, dass ein Jahrzehnt anbrach, ist gefühlt ein Jahrhundert her. Ich trug Hennarot und Haremshosen, das „Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe“ war meine Bibel, und meinen damaligen Freund hätte ich am Silvesterabend um ein Haar aus purer Langeweile auf einem Göttinger Regionalbahngleis verlassen, nicht ohne ihm das iPhone 3G mit dem Bierdeckel-Ploppgeräusch-Klingelton hinterherzuwerfen. Warum ich es nicht tat, weiß ich nicht mehr. Ich weiß aber noch, dass damals überhaupt niemand zum Thema machte, dass nun eine neue Dekade beginne und was das wohl – ach! – bedeuten möge. Und ich glaube, das lag nicht nur daran, dass der Begriff „Zehnerjahre“ wirklich schlimm hässlich klingt. Sondern auch daran, dass wir da noch wesentlich unbekümmerter in die Zukunft blickten. Die „Nullerjahre“ (noch hässlicher) gaben ja auch wenig Anlass, ihnen hinterherzutrauern: Sie waren das Jahrzehnt des Terrors vom 11. September und seinen Folgen, das der Weltwirtschaftskrise, das eines Tsunamis mit knapp einer Viertelmillion Todesopfern. Das „schlimmste Jahr seit Kriegsende“, schrieb Josef Joffe in der Zeit.

Klingelton

Hinterm Horizont leuchtete dagegen schon das pralle Glück des Digitalen hervor, und tatsächlich: Das Egalitätsversprechen des Internet wurde mit den Zehnerjahren Wirklichkeit. Jede*r hatte inzwischen Zugang, man konnte darin endgültig alles finden, was man brauchte, und sein, wer man wollte. Facebook und Twitter waren tatsächlich noch soziale Medien, und spätestens als Instagram und Snapchat dazukamen, das iPad geboren wurde und Smartphones zur Massenware, wurde die digitale Persönlichkeit zu einer festen Ergänzung der analogen bis hin zur Überlagerung.

Genau das lief aber sehr bald aus dem Ruder. Die Protagonisten dieses Internetzeitalters waren nicht länger Menschen mit Trainingsjacken und Umhängetaschen, die „Texte ins Netz stellen“, wie sie Harald Schmidt zeichnete, als er noch lustig und vergleichsweise sympathisch war. Es waren Menschen, die dieses Versprechen pervertierten. Menschen, die die Banalität ihrer Existenz schon immer in Form von Hass an anderen ausgelassen und mit dem Internet nun einen neuen Ort gefunden hatten, an dem sie ungeniert mehr als nur ihre Raufasertapete beschimpfen konnten (an dieser Stelle schöne Grüße an Leser H., der mir neulich von der Firmenadresse seines Haustechnikunternehmens völlig anlasslos schrieb, ich sei eine „grüne Schlampe“ (?!) und solle verdammt noch mal die Fresse halten. Nö, Hase, mach ich nicht).

Raufasertapete

Wie alle anderen war also auch diese Jugend des Internets aufregend und alles versprechend – aber auch brutal schnell vorbei. Jetzt sitzen wir also da mit weltumspannenden Konzernen, die so viele von unseren Daten haben und nutzen, dass man sich fast den Myspace-Spam von früher zurückwünscht, und einem Urteil, nach dem die ­Bezeichnung einer Politikerin als „Drecksfotze“ in Facebook-Kommentaren noch keine Beleidigung sei, sondern nur eine zulässige Meinungsäußerung (immerhin hat das Landgericht Berlin bei den Nut­zerbewertungen auf Google nur 1,7 von 5 Sternen).

Trolle

Ich glaube trotzdem daran: Das Gute am Internet wird die Trolle überleben. Aber leider sind sie ja nicht nur im Internet. Obwohl das vergangene Jahrzehnt mit Thilo Sarrazins Biologismusfantasien begann, ahnte wohl kaum jemand, wo es enden würde: mit einer rechtsextremen Partei im Bundestag, mit nicht enden wollenden Skandalen rund um rechte Umtriebe in Sicherheitsbehörden, mit einem Vierjährigen aus Dresden, der mutmaßlich rassistisch motiviert vom Dreirad getreten wurde. Die bevorstehenden Zwanziger Jahre mit wachsender Sorge quasi durch den Rückspiegel zu betrachten liegt also nahe. Sehr nahe.

Rückspiegel

Es wäre gut, gäbe es dafür ein ähnlich wachsendes Bewusstsein wie für die Klimakatastrophe. Dass die Angst vor Letzterer oder zumindest das Reden darüber immer mehr Lebensbereiche durchdringt, das haben diese Zehnerjahre doch ausnahmsweise gut hinbekommen. Ich jedenfalls habe vorher nie darüber nachgedacht, wie bekloppt es eigentlich ist, dass an jedem Jahresende allein in Deutschland knapp 30 Millionen Nadelbäume gekauft werden, wo sie dann im Wohnzimmer als Brandrisiko vor sich hin rieseln, bis sie von Anfang Januar bis Ende April die Bürgersteige versperren. Aber jetzt kann ich auch nicht mehr NICHT drüber nachdenken. Und ich glaube, das ist trotz allem ein gutes Zeichen für die Zwanzigzwanziger.

Feiern Sie schön, und kommen Sie gut rüber. Oder wie Angela Merkel – diese kommende Dekade wird sich ohne sie seltsam leer anfühlen – ihre CDU nach der letzten Wahl des (vor-)vergangenen Jahrzehnts segnete: „Jetzt, liebe Leute, lasst mal richtig die Party knallen oder wie man sagt, ich kenn mich da nicht so gut aus.“

Nächste Woche Ebru Taşdemir

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