der rote faden: Sind Sie noch allein, oder sind Sie schon einsam?
Durch die Woche mit Robert Misik
In der Gesellschaft der Singularitäten, wie das Andreas Reckwitz in seiner gefeierten Studie nennt, herrscht uns von Kindesbeinen an der Zeitgeist an, dass wir etwas Besonderes sein sollen. Wir nehmen weniger auf das Bedacht, was uns mit anderen verbindet und uns ihnen ähnlich macht, als mehr darauf, was uns einzigartig macht, also von anderen unterscheidet. Dass das Fäden und informelle Bande zerreißt, ist naheliegend. Man kann das Ergebnis eine Gesellschaft der Totalindividualisierung nennen, wenn man mag. Das individualisierte Individuum genießt die Individualisierung und leidet zugleich unter ihr. In der Politik kommt das dann so an, dass man parolenhaft den „sozialen Zusammenhalt“ beschwört, ohne dass recht klar wird, wie der denn eigentlich hergestellt werden soll.
Es ist wahrscheinlich kein Wunder, dass die Politik gerade in diesen Zeiten beginnt, die „Einsamkeit“ als gesellschaftliches und somit auch politisches Problem zu definieren. In Großbritannien haben sie jetzt sogar eine Einsamkeitsministerin, also eine Ministerin, die sich neben den Aufgabengebieten Sport und Zivilgesellschaft dem Kampf gegen Einsamkeit widmet. Gekommen ist das so: Die energetische Labour-Politikerin Jo Cox, die sich als Studentin fürchterlich einsam fühlte, hatte sich das Thema auf die Fahne geschrieben. Sie hatte eine Kommission gegründet, die sich mit seiner Erforschung befassen sollte. Dann wurde Cox von einem rechtsradikalen Wutbürger ermordet, und das Thema wurde zu ihrem Erbe. Ihr Witwer führte die Kommission weiter, zur Ehrung der Ermordeten machten fast alle politischen und gesellschaftlichen Akteure mit.
„Eine Epidemie im Verborgenen“, nennt die Kommission die Einsamkeit. Sie verursacht gesundheitliche Probleme – wer chronisch einsam ist, stirbt eher, bekommt früher Herzprobleme etc. Aber wer sich nicht eingebettet fühlt in gesellschaftliche Netze, der wendet sich auch von der Gesellschaft ab. „Ist der Mensch einsam, leidet die Demokratie“, titelte unlängst sogar die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
Ob wir heute tatsächlich alle zusammen einsamer sind als früher, ist dabei heftig umstritten. Klar, Rentner oder Rentnerinnen, die verwitwet sind und auch noch immobil und nur mehr auf die tägliche Essen-auf-Räder-Lieferung warten, sind oft einsam – aber das war früher auch nicht sehr viel anders, auch wenn die Alten vielleicht häufiger im Familienverband betreut wurden. Dazu kommen: immer mehr Singlehaushalte; das selbst gewählte Alleinsein, das nicht immer Einsamkeit bedeutet, aber in Phasen der Einsamkeit umschlagen kann.; beziehungsfeindliche Karrieremuster, Fernbeziehungen und häufige Wechsel von Arbeitsorten (verbunden mit der Schwierigkeit, stabile Beziehungen aufzubauen); neue Arbeitsformen ohne echte Kollegialität. Elemente der Kultur der Einsamkeit mögen auch sein: die oberflächliche Pflege einer Vielzahl von Bekanntschaften und der Mangel an engen Freundschaften, was dann zu dem bekannten Phänomen führt, dass Leute gewissermaßen „in Gesellschaft einsam sind“. Oder auch: dass man Beziehungen in der Krise nicht mehr repariert, sondern beendet, was nicht immer zu Einsamkeit führen muss, aber doch häufig dazu führt.
Wer viele Facebook-Freunde hat, ist oft besonders einsam, haben Studien herausgefunden. Warum? Vielleicht weil man dann vor dem Computer vereinsamt, während man seine Fake-Freundschaften pflegt? Vielleicht auch weil man das ausgestellte Scheinglück der anderen sieht und unglücklich wird? Oder weil man in der Unmenge der möglichen Bekanntschaften zu keiner echten Freundschaft mehr kommt? Wer weiß.
Der norwegische Philosoph Lars Svendsen hat vor zwei Jahren eine tolle „Philosophie der Einsamkeit“ herausgebracht, die das Thema von allen Seiten beleuchtet. Dass Alleinsein und Einsamkeit unterschiedliche Phänomene sind, dass das Gefühl, einsam zu sein, auch nicht unbedingt voraussetzt, dass man öfter allein ist als andere. „Einsam hat eine emotionale Dimension, deren allein nicht bedarf.“ Svendsens Erkenntnis: Wirkliche drückende chronische Einsamkeit droht „das gesamte Dasein zu unterminieren“. Einsamen mangelt es an Vertrauen zu anderen. Von Einsamkeit bedroht ist man, wenn man selbstzentriert und egozentrisch ist und andere nur als Spiegel des eigenen Selbst behandelt. Insofern kann eine Erfolgsgesellschaft, die das narzisstische Posertum belohnt, schon Einsamkeit triggern. Aber Statistiken „können die These, dass Einsamkeit zunimmt, nicht stützen“. Einsamkeit ist somit eher eine psychocharakterliche Disposition, die oft unabhängig davon ist, ob man viele oder keine Leute um sich herum hat.
Das fiese an der Einsamkeit: Man redet nicht über sie. Man versucht, ihr panisch zu entfliehen und die Fassade zu wahren. Überspitzt gesagt: Man ist in der Einsamkeit einsam.
Nächste Woche Johanna Roth
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