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der rote faden Das postfaktische Zeitalter kennt auch noch die gute alte Lüge

nächste wocherobert misik Foto: Stefan Boness

durch die woche mit

Daniel Schulz

Lügensoftware

Am Donnerstag veröffentlichte die britische Boulevardzeitung Daily Mail die Bilder einer gigantischen Riesenkrabbenspinne, die auf einer australischen Farm gefilmt wurde. Es könnte die größte Spinne aller Zeiten sein. Noch immer hoffe ich auf einen Internetschlaumeier, der beweist, Gozillas achtbeinige Cousine sei die Ausgeburt irgendeiner Lügensoftware. Bisher leider Fehlanzeige.

Dabei ist das doch der Vorteil dieses „postfaktischen Zeitalters“, in dem wir leben: die Hoffnung, Dinge, die uns unangenehm erscheinen, ließen sich einfach damit erklären, dass sie irgendwer erfunden hat.

Gruselmärchen

„Postfaktisch“ ist zu einem Lieblingswort im Journalismus geworden, weil sich damit das Unwohlsein, die Besorgnis, das Entsetzen angesichts der Erfindungen der Brexit-Kampagne, des Trump-Lagers und von Pegida/AfD in einen Begriff fassen lassen. Die Befürworter eines Ausstiegs aus der Europäischen Union hatten behauptet, Großbritannien sende jede Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel. Die Summe ist nicht einmal halb so groß. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump hat inzwischen so oft gelogen, dass eine Auflistung nicht in diesen Text passt und die rechte bis rechtsextreme Bürgerbewegung, die unter Labeln wie Pegida und AfD firmiert, hat riesige Geldmengen erfunden, mit denen Flüchtlinge in Deutschland angeblich beglückt werden – und das Gruselmärchen, Islamisten hätten die Ziegen im Erfurter Streichelzoo gefressen.

Anfang Juli schrieb Lenz Jacobsen in der Zeit einen langen Text über dieses Phänomen, Überschrift: „Das Zeitalter der Fakten ist vorbei“. Die Wahrheit sei zum Kampfbegriff geworden, Fakten nicht mehr der Goldstandard in öffentlichen Debatten. „Es scheint damit eine Epoche zu Ende zu gehen, die seit der Aufklärung spätestens angedauert hat.“

Veggie-Day

Seither ist die These populär geworden, es gäbe einen klaren Schnitt zwischen einer Zeit, in der demokratischer Streit noch ritterlich mit Fakten ausgefochten wurde, und heute, wo vor Blödheit trunkene Halbstarke durchs Internet ziehen. Da ist was dran – eine Debatte mit einem großen Teil der in Deutschland lebenden Menschen ist gar nicht mehr möglich ob der flächendeckenden Lügen. Aber haben diese Leute das „postfaktische“ Prinzip tatsächlich erfunden? Und was sagt uns dieser Begriff eigentlich? Fügt er Begriffen wie Propaganda, Lüge, Verdrehung einen präzisierenden, aufklärerischen Mehrwert hinzu?

Vorratsdatenspeicherung

Am Mittwoch saß Winfried Kretschmann in der Sendung von Sandra Maischberger. Er war als Vernunftmensch eingeladen – im katholischen Internat geschlagen, wegen des autoritären Geistes aus der Kirche ausgetreten, in den autoritären Kommunistischen Bund Westdeutschlands eingetreten, heute von Ideologie geläutert. Ab Minute 9:52 ging es um den Veggie-Day, jenes Eintreten für mehr fleischlose Ernährung, welches die Grünen bei der letzten Bundestagswahl wohl einige Wähler gekostet hat. Kretschmann wiegt abwägend das Haupt, die Idee sei falsch verstanden worden, aber: „Politik muss vorsichtig sein, den Menschen Vorschriften für ihre persönliche Lebensführung zu machen.“ Da war sie wieder, die Legende, der „Veggie-Day“ sei als Gesetz oder Vorschrift gedacht gewesen, etwas, das aufgrund der Rechtslage nicht möglich ist.

Die Verdrehung dieser grünen Idee ist nicht mit den Erfindungen des rechten Internetmobs gleichzusetzen. Interessant an Kretschmanns Äußerung ist aber, wie wirkmächtig und erfolgreich in der Politik auch vor der „postfaktischen Ära“ mit Überspitzungen bis hin zur Lüge gearbeitet wurde. Es gibt andere Beispiele, etwa die Diskussionen um technische Überwachung. Die Untersuchungen, die es dazu gab, bescheinigten der Vorratsdatenspeicherung keinen Gewinn an Sicherheit. Es gibt sie trotzdem. War es nicht lange einer der Lieblingssprüche in jedwedem Milieu, man solle nur den Statistiken glauben, die man selbst gefälscht habe?

„Ist das jetzt schon beschlossene Sache mit dem „Postfaktischen“ so als neue Ära? Scheint unter Journalist*innen Konsens zu sein (was mich wundert)“, schrieb die Kollegin Ebru Taşdemir am Donnerstag auf Facebook. Wundern ist angebracht. Denn hinter dem Begriff könnte eine propagandistische Haltung stecken, die besagt, eine bestimmte Klasse oder Elite sei automatisch im Besitz der Wahrheit und die anderen nicht. Er könnte verdecken, dass darum, was die Wahrheit sei, schon vorher gestritten wurde, und zwar oft mit unlauteren Mitteln. Vielleicht so erfolgreich, dass die Rechten, derzeit wirkungsvoller als Linke, das Prinzip übernommen und radikalisiert haben.

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