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der rote faden Sommer: Stadtviertel hinzen sich schön, Linke fordern Loyalitäten

Reichstagskuppel

durch die woche mit

Nina Apin

Sommerzeit, Reisezeit. Wenn die Verwandtschaft aus dem Süden der Republik für ein paar Tage vorbeikommt, versucht man als gute Gastgeberin, noch schnell Karten für die Reichstagskuppel zu besorgen. Online: alles ausgebucht für die nächsten 10 Tage. Die kommen aber schon übermorgen! Also schnell nach Feierabend in die Schlange vor dem Container eingereiht. Resultat: Persönliches Erscheinen aller volljährigen Besucher samt gültigen Ausweisdokumenten erforderlich. Auch der Trick, einen Tisch im Kuppelrestaurant zu reservieren, um die Schlange zu umgehen, funktioniert nicht mehr, ebenso wie das Bemühen von Beziehungen zu Bundestagsmitarbeiterinnen, die früher einfach ganze Besuchergruppen auf dem kurzen Dienstweg durchwinkten. Die Zeiten sind vorbei. „Das ist wegen dem Terror“, erklärt freimütig eine der himmelblau gekleideten Servicemitarbeiterinnen.

Terror

Als der Besuch dann kommt, stellt er fest: Fast keine Polizei in Berlin – kürzlich, in Paris, da habe man quasi alle halbe Stunde die Tasche öffnen müssen. „Das ist wegen der Anschläge“, erklärt meine zwölfjährige Nichte sachlich, als beschreibe sie ein Naturphänomen. Viel mehr als die Möglichkeit terroristischer Bedrohung scheint sie aber der Zustand unseres Treppenhauses zu tangieren. Ungepflegt, schlecht geputzt, die Mülltonnen dienen eher als ungefährer Anhaltspunkt für die Müllablage denn als fachgerecht genutztes Behältnis – was auch daran liegt, dass sie mehrmals täglich von mittellosen BewohnerInnen des Viertels nach Pfandflaschen und anderem Verwertbaren durchwühlt werden.

Wenigstens, so könnte man auch sagen, versucht unser Mehrfamilienhaus in einfacher Wohnlage gar nicht erst, bürgerliche Gepflegtheit zu suggerieren. Unsere Hausverwaltung könnte sich da eine Scheibe bei Petra Hinz abschneiden. Aus einem Viertel für Leute ohne Abitur würde dann eine Anwaltsgegend. Und aus der Handvoll tatsächlich ansässiger Kanzleien mit Schwerpunkt Sozial- und Ausländerrecht würde ein Sitz international arbeitender Beratungsunternehmen. Am Fall Hinz sieht man auch, wie hartnäckig Legenden sind. Einmal in der Welt respektive in der Partei, sind sie schwer wieder abzuschütteln.

Münchhausen

Hier könnte sich die SPD wiederum von dem Immobilienvermarkter inspirieren lassen, der Strukturschwäche und Schmuddeligkeit als Standortvorteil bewirbt. „Authentisch und mittenmang“. Die SPD als Volkspartei, die von der Sozialaufsteigerin mit Münchhausen-Syndrom bis zum Rassentheoretiker mit AfD-Tourette niemanden fallen lässt – wäre das nicht ein Bekenntnis zur Toleranz in einer Woche, in der sogar Jakob Augstein eindeutige Loyalitäten fordert? Die doppelte Staatsbürgerschaft sei ein Irrtum. Das Angebot habe nur für progressive Zeitgenossen gegolten, nicht für die Todesstrafe befürwortende Erdoğan-Anhänger, stellt Augstein klar. Und befindet sich damit in schönstem Einverständnis mit dem CDU-Hardliner Jens Spahn, der fordert: Erdoğan-Fans ab in die Türkei. Und wo er schon mal auf Sendung war, erklärte das CDU-Präsidiumsmitglied auch gleich, dass er an einer Burkaphobie leide.

Sommerzeit, Wahlkampfzeit. In meinem Kiez jedenfalls sind die beiden türkischen Frauen, die sommers in ihrem schwarzen Niqab auf dem Spielplatz schwitzen, weg. Bestimmt im Türkeiurlaub. Wenn sie wiederkommen, wird sie ein Wahlplakat der AfD empfangen, mit zwei schwulen Männern, die sagen, sie legten keinen Wert auf die Bekanntschaft muslimischer Einwanderer, für die ihre Liebe eine Todsünde sei. Dieselbe Partei wirbt mit einer jungen Migrantin, die das deutsche Schulwesen preist, weil Deutsch lernen für ihre Kinder ja so wichtig sei.

Wahlkampf

Wem die Sympathien oder ­Loyalitäten meiner verschleierten Nachbarinnen gelten oder ob sie die Todesstrafe befürworten, darüber kann ich nur spekulieren. Kann sein, dass sie als türkische Staatsbürgerinnen ohnehin nicht wählen dürfen. Der Weg zum Wahlrecht in Deutschland rückt mit jeder weiteren Verhaftung, jeder ­weiteren Drohung Erdoğans gegen seine Feinde im In- und Ausland in immer weitere Ferne.

Was den lokal bekannten türkischen Staatsbürger Aydin Akin nicht daran hindert, weiter auf dem Fahrrad durch Berlins Stadtmitte zu fahren. Mit Trillerpfeife im Mund und einem Lautsprecher auf dem Gepäckträger fordert er seit Jahren lautstark: „Kommunales Wahlrecht für Ausländer jetzt.“ Er sei seit 46 Jahren in Deutschland und zahle Steuern. Warum um alles in der Welt dürfe er dann nicht über die Geschicke der Stadt mitbestimmen, in der er lebt?

Die Chancen für Akin standen nie schlechter.

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