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Archiv-Artikel

der letzte Tanz bei Clärchen ist vorbei Nix mehr mit Fummeln und Wadengucken

Nu is allet zu spät! Das „Clärchens“ wird nicht mehr. Aus dem legendären Tanzschuppen für einsame und bierselige Herzen wird demnächst „ein großer Berliner Salon zum Plaudern und Tanzen“. Nix mehr mit Fummeln, Waden gucken und Hasenpfoten in der Hosentasche. Nee, stattdessen gepflegte Langeweile bei Live-Bands und Kulturauftritten.

91 Jahre ging’s im Ballhaus in der Auguststraße in Mitte ums Ganze: Nämlich um die Frage: Will se – oder nich? Eine Einsame – mehr das als Dame – ein Suchender, ein Tanz und ein bisschen Hoffnung auf Glück. Das war die Formel, die all die Jahrzehnte den vergilbten Schuppen zu einem Ort der gepflegten Derbheit machte – und das immer wieder mit Erfolg. Doch zum 1. Januar war Schluss mit lustig. Das Gebäude, das Kriege und Wenden überdauert hatte, war Mitte des vergangenen Jahres verkauft worden – Eigentümerwechsel. Nun will der Betreiber des „Hexenkessel Hoftheaters“ und der Strandbar Mitte am Spreeufer im Monbijou-Park das „Etablissemang“ mieten. Natürlich soll das Flair der 20er-Jahre erhalten bleiben, verspricht man uns. Doch was heißt das schon? Bei „Clärchens“ ging’s gar nicht um die Illusion, Berlin sei eine Weltstadt.

Hier kam her, wer gerne schwofte und schwatzte. Gab es mittwochs die Damenwahl, drehte sich mal ein paar Stunden nicht alles um mein Haus, mein Auto, mein Boot, sondern welcher Herr den knackigsten Hintern hatte und was er damit so alles anstellen könnte. Im Klo wurde evaluiert oder geheult, am Tresen verflucht oder versoffen. Live-Bands gabs im „Clärchens“ schon immer. Die spielten Bodenständiges, von Heino bis Manfred Manns Earthband, alles was brauchbare Tanzmusik war. Schick war das Ballhaus in den letzten Jahrzehnten nicht. Wer roten Plüsch und Tischtelefone zum Anbandeln brauchte, der musste ins Café Keese. Im „Clärchens“ war ehrliche Handarbeit erforderlich: Der Herr, die Dame, hatte sich gefälligst bis an den Tisch zu wagen. Eine Übung, die oft erst nach den ersten Bieren, pardong: Schalen Sekt, klappte.

In Zukunft wird hier herkommen, wer schon hat, was er sucht. Oder es wird nach dem nächtlichen Kulturauftritt nach Hause geschlichen und im Internet nach „Kontakten“ gesucht. Egal. Wer wollte heute noch, zu Abba tanzend, Gesellschaft für einen Abend finden? Oder sich in den schwülen Dünsten von aufgeregten Zigarettenpaffern der Illusion hingeben, ein gemeinsamer Tanz sage mehr als der passende Bildungsabschluss? Und mal ehrlich: Will man wirklich, dass auch Reinickendorfer Versicherungsagenten abends am gleichen Bier nibbeln wie man selbst? Clärchen ist tot, es lebe Clärchen. Jetzt kommen Berenice und Cindy und Natascha und Plaudern. ADRIENNE WOLTERSDORF