daumenkino : Sozialmobiliar
Gott ist tot
Es ist etwas faul im Staate D. Jetzt, wo sich zunehmend „Mittelschichten“ in Bedrängnis fühlen, ist auch im Spielfilm „sozialer Realismus“ wieder erwünscht. Sozialer Realismus unterscheidet sich vom „Sozialistischen“ häufig dadurch, dass er anstatt über Strukturen und Abhängigkeiten lieber von Emotionen spricht. Es gibt noch ein weiteres Merkmal: Auf jenen Teil der Gesellschaft, der gern Unterschicht genannt wird, wird sehr von oben herabgeblickt, obwohl man das Gegenteil vorgibt.
So ist es jedenfalls in Kadir Sözens Film, der sich mit ein paar Misérables aus Köln-Ehrenfeld beschäftigt. Am Lenauplatz lebt Heinrich Lutter von der „Hilfe zum Lebensunterhalt“. Seine Söhne, der eine vorbestraft, der andere geistig behindert, sind ihm Freude und Sorge zugleich. Lutters wirklicher Halt ist aber sein Wohnmobil, laut Presseheft das „Symbol für Freiheit und ein besseres Leben in Italien“. Das Sozialamt kauft ihm diese Wunschökonomie aber nicht ab und kassiert den Signifikanten als das, was er ist: ein privatistischer Nebenschauplatz. Lutter lässt sich nicht beirren, auch wenn Annäherungsversuche zwischen Vater und Sohn dann noch auf harte Proben gestellt werden.
Auf eine harte Probe gestellt wird auch das Publikum. Warum sollte es sich mit den am Reißbrett entworfenen Widersprüchen abgeben, da schon alle Details so uninspiriert und freudlos sind? Sözer lässt wirklich nichts aus: Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe, Kleinkriminalität und Autowerkstatt, das Büdchen und die kleinen Träume. Was wären im deutschen Film aber die kleinen Proletarierträume ohne den Geruch von Linsensuppe an Knackwurst vor gekühltem Bier? Ganz einfach, es würde die filmische Existenzberechtigung der gesamten Klasse in Frage gestellt. Deshalb sprechen hier auch alle dieses überklar zischelnde Hochdeutsch. Deshalb nehmen nicht mal die Nebenfiguren etwas Druck aus dem Brokatdeckchenschema. Und da auch der Behinderte und sein „anarchisches“ Störpotenzial zur Erhöhung des Wirklichkeitslevels eigentlich nichts beitragen, müssen die Intensitäten eben anderweitig produziert werden. Nur so ist eigentlich dieses unmotivierte Aufbrausen, Schnaufen und Drängen der Individuen zu erklären, das diesen Film wie mit der Axt strukturiert.
Wo das Innenleben des Menschen reicher ist als seine Ausdrucksfähigkeit, da glaubt aber Götz George seine Stunde zu haben. „Gott ist tot“ prahlt mit der Info, George habe hier ganz auf die Gage verzichtet. Da umsonst aber nur der Tod ist, wurde die Rechnung wohl auf andere Weise beglichen. Vielleicht mit Großaufnahmen. Sie geben George jedenfalls die Gelegenheit, das zu tun, was er am liebsten hat: das Selbstbild verbreiten, er sei ein Gigant des method acting. Was aber am erstaunlichsten ist: dass sich selbst unter dem Sparzwang und einem Autorenfilmer, der in der Türkei geboren wurde, dieser sentimentale und fiese Deutsch-TV-Realismus durchsetzt.
MANFRED HERMES
„Gott ist tot“. Regie: Kadir Sözen. Mit Götz George, Markus Knüfken, Bastian Trost u. a. Deutschland 2002, 95 Min.