das wird: „Schön, etwas Rätselhaftes zu erleben“
Warum empfinden Menschen die Neue Musik als elitär? Das fragt eine Performance in Hamburg
Interview Katrin Ullmann
taz: Frauke Aulbert, Michiko Saiki, ein „Musiktheaterexperiment, bei dem die Bühne zur Plattform für die Darstellung unterschiedlicher sozialer Schichten wird“ – was kann man sich darunter vorstellen?
Frauke Aulbert: Es handelt sich bei unserer Performance um einen Versuchsaufbau, es ist in vielen Aspekten ein Experiment.
Inwiefern?
Aulbert: Wir brechen mit Standards, zum Beispiel bei der Auseinandersetzung mit den behandelten Partituren. Wir haben das Material auseinandergenommen und neu zusammengesetzt – aus meiner Sicht ein Novum in der Neuen Musik und im zeitgenössischen Musiktheater.
Frauke Aulbert
*1980, Sängerin und Multivokalistin, entwickelt Stimmperformances an den Grenzen von bildender Kunst und Theater.
Michiko Saiki: Kunst ist nicht zu erklären, sie ist zu erleben. Dieses Performance ist sehr abstrakt erzählt. Jeder würde jede Szene völlig anders interpretieren, es gibt keine konkrete lineare Handlung. Ich würde dem Publikum wirklich empfehlen, es eher als ein abstraktes Kunstwerk zu erleben, denn als ein Musiktheaterstück
Warum verhandeln Sie das Thema Klassismus ausgerechnet im Musiktheater, einem Genre, das doch selbst eher zu den elitäreren Formen der darstellenden Künste gehört?
Aulbert: Zum einen beschäftigen wir uns mit diesem Thema aufgrund unserer Biografien. Zum andern war Klassismus kaum Thema in Musiktheater oder in klassischer Musik, erst recht in der Neuen Musik. Und genau das möchten wir ändern.
Saiki: Bei unserem Stück handelt es sich nicht nur um Musiktheater, sondern um „zeitgenössische Musik im Theater“, was eine noch stärkere Konnotation zur Hochkultur hat. Aber ich frage mich, ob das im 21. Jahrhundert wirklich der Fall ist.
Performance „The Melodic Society – (Dis)Harmonie der Klassen“: Fr, 22. 3., 20 Uhr, und Sa, 23. 3., 17 Uhr, Hamburg, Sprechwerk
Warum?
Saiki: So viele Musikgenres sind online verfügbar. Die Vorstellung, dass Musik zu einer elitären Gesellschaft gehört, ist meiner Meinung nach überholt. Die Rolle der zeitgenössischen Musik oder der zeitgenössischen Kunst besteht darin, dem Publikum die Möglichkeit zu geben, nachzudenken und seine Kreativität zu entfalten. Wenn die Menschen in der heutigen Gesellschaft der Meinung sind, dass Neue Musik ein elitäres Nischengenre ist, dann denke ich, dass wir als Verfechterinnen der Neuen Musik noch eine Menge zu tun haben.
Könnte man Ihnen nicht bereits für den Titel „The Melodic Society – (Dis)Harmony der Klassen“ selbst Klassismus zur Last legen? Nicht jede*r versteht Englisch …
Michiko Saiki
Pianistin, Multimediakünstlerin und Musikwissenschaftlerin, tritt weltweit auf Festivals und bei Konzertreihen auf.
Saiki: Deutschland ist das dritte Land, in dem ich lebe und ich habe hier sehr viele internationale Menschen kennengelernt. Davor habe ich zehn Jahre lang in den USA gelebt. Oft habe ich erlebt, dass die USA als Melting Pot bezeichnet werden. Es kann der Eindruck entstehen, sie repräsentierten mehr Vielfalt als andere Länder. Ich finde aber, dass Europa ebenso „Schmelztiegel“ ist und Diversität hier ebenfalls gelebte Realität ist. Ich finde es gut, dass unsere Performance einen englischen Titel hat, denn das kann internationale Zuschauer anziehen. Man kann dem Stück auch ohne deutsche Sprachkenntnisse folgen. Nichtdeutsche sind ebenso Bürger*innen der deutschen Gesellschaft – es ist nur eine Frage der Perspektive.
Welches Publikum möchten Sie erreichen?
Saiki: Eines, das noch nie Neue Musik gehört hat. Es ist schön, etwas zu erleben, das rätselhaft und nicht „einfach“ ist. Wir haben immer Antworten, wenn wir Google oder Chat-GPT fragen. Aber wir sollten uns manchmal an Dingen erfreuen, auf die es keine Antworten gibt. Die Antwort ist etwas, das man selbst finden muss – und oft ist sie bereits in uns selbst vorhanden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen