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Archiv-Artikel

crime scene Intertextuell verspielte Hommage an Conan Doyle: Michael Chabons Kriminalroman „Das letzte Rätsel“

Viele Menschen, darunter alle Kinder, hassen ungelöste Rätsel. Das macht die klassische Sherlock-Holmes-Geschichte auch für die lesende Jugend attraktiv. Die Unfehlbarkeit, mit der das pfeiferauchende Genie aus den unwahrscheinlichsten Spuren abseitige Schlüsse zieht, hat besonders im Kinderkrimi Schule gemacht. Holmes als Person allerdings ist keine Identifikationsfigur, was auch daran liegt, dass Sir Arthur Conan Doyle es strikt vermied, seinen Helden von innen zu zeigen. Aus der Normalo- Perspektive des Dr. Watson geschrieben, thematisieren die Holmes-Geschichten penetrant die Undurchschaubarkeit des Genies. Das ärgert vor allem junge Leser, denn, wie gesagt, ungelöste Rätsel hassen sie.

Vermutlich war es ein später Reflex auf dieses Gefühl, das den nun erwachsenen Pulitzer-Preisträger Michael Chabon bewog, eine Antwort auf Sir Arthurs Vorlage zu wagen. Und so begeht er die Ungeheuerlichkeit, den Erzähler in Holmes’ Kopf – beziehungsweise den seiner Hauptfigur, die natürlich nicht „Holmes“ genannt wird – schlüpfen zu lassen.

Da lebt also ein 89-jähriger Eigenbrötler inmitten von Bienenstöcken im ländlichen Sussex. Im Jahr 1944 taucht ein Junge auf, ein Flüchtling aus Deutschland, der einen Papagei auf der Schulter trägt. Der Vogel kann nicht nur kitschige Lieder singen, sondern rattert auch unentwegt Zahlenkolonnen herunter, was in gewissen Kreisen für Aufmerksamkeit sorgt. Zwei Männer interessieren sich für das Tier, sie wohnen beim örtlichen Vikar und seiner Frau, die eine Pension betreibt. Doch bald ist einer von ihnen tot und der Papagei verschwunden. Die Polizei hat mit dem Sohn des Vikars einen dringend Tatverdächtigen, doch da sie im Grunde im Dunkeln tappt, entsinnt man sich des alten Superhirns …

Es versteht sich von selbst, dass Chabon nicht am simplen Whodunnit interessiert ist, sondern am Spiel mit der literarischen Vorlage. Genüsslich, fast schadenfroh, führt er den körperlichen Verfall des Alten vor, der auch dessen geistige Fähigkeiten in Mitleidenschaft zieht („Sein strapaziertes Arteriensystem bemühte sich, das plötzlich zum Himmel strebende Hirn mit dem notwendigen Blut zu versorgen“).

Wo bei Conan Doyle ein besserwisserischer Schnösel agiert, der sich anmaßt, jedes Problem mittels Deduktion lösen zu können, stolpert bei Chabon ein Greis umher, der unter Aufbietung letzter physischer Reserven zwar den Papagei wiederfindet. Das eigentliche Rätsel aber – die seltsamen Zahlenreihen – löst er nicht. Er gelangt nur zu der unbehaglichen Erkenntnis, dass möglicherweise gerade „die unlösbaren Probleme […] die wahre Natur der Dinge offenbaren“.

Chabon wagt es also, Sir Arthur in wesentlichen Punkten zu korrigieren, gleicht diese Respektlosigkeit aber an anderer Stelle wieder aus. Im Personal des Buches, genauer in der Person des Vikars, der „schwarz“ ist, weil aus Südindien stammend, seiner britischen Frau und ihres gemeinsamen Sohnes, zitiert Chabon den wahren Kriminalfall des George Edalji (zufällig auch Gegenstand des neuen Romans von Julian Barnes), der berühmt wurde, weil Conan Doyle höchstpersönlich für dessen Aufklärung sorgte. Ehre, wem Ehre gebührt. Für echte Conan-Doyle-Kenner muss diese intertextuell verspielte Hommage ein wahres Festmahl sein. Alle anderen dürfen sie einfach als brillant geschriebene Detektivgeschichte lesen.

Und wer in puncto Holmes noch Nachholbedarf verspürt, kann sich weitere Lektüre gleich ganz sparen. Mit weit über hundert lieferbaren Produktionen ist der alte Detektiv besonders auf dem Hörbuchmarkt ein Kassenschlager. Die Kunst der Deduktion scheint noch genügend echte Anhänger zu haben.

KATHARINA GRANZIN

Michael Chabon: „Das letzte Rätsel“. Aus dem Englischen von Andrea Fischer, KiWi, Köln 2005, 128 S., 6,90 Euro Arthur Conan Doyle: „Der Vampir von Sussex“. Hörspiel. Maritim Produktionen, Dortmund 2005, 6,95 Euro www.sherlockian.net (mit Links auf alle Originaltexte)