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Archiv-Artikel

crime scene Ein Krimi über Zwangsarbeiterinnen in NS-Privathaushalten: Elisabeth Herrmanns Roman „Das Kindermädchen“

Es kann so allerhand passieren, wenn man sich mit den oberen zehntausend einlässt, wie der Jurist Joachim Vernau schmerzlich erfahren muss, der sich mit Anfang vierzig endlich im richtigen Leben angekommen wähnt. Kaum hat er sich mit einer aufstrebenden Politikerin aus altem Berliner Geldadel verlobt und wird Partner in Schwiegerpapas schicker Anwaltskanzlei, da passieren Dinge, die ihn in eine komplett andere Umlaufbahn katapultieren. Quasi über Nacht wird Vernau, mehr nolens als volens, zum Anwalt der Erniedrigten und kriegt dabei gehörig was auf die Mütze.

Und das kam so: Vor einigen Jahren las Elisabeth Herrmann, Journalistin und Romanautorin, einen Artikel, in dem Menschen ihre Erinnerungen an Zwangsarbeiterinnen schilderten, die, als Halbwüchsige verschleppt, während der Nazizeit als Kindermädchen in Privathaushalten arbeiten mussten. Ein unaufgearbeitetes Kapitel deutscher Geschichte: Wenn von Zwangsarbeitern die Rede ist, dann in der Regel von solchen in Industrie und Landwirtschaft. Herrmann beginnt zu recherchieren, findet eine Organisation, die ehemaligen Sklaven-Kindermädchen hilft, da diese wegen unklarer Rechtslage oft keine Entschädigung bekommen, und fährt sogar in die Ukraine, um mit Betroffenen zu sprechen. Daraufhin schreibt sie diesen Krimi, dem nicht nur das Verdienst zukommt, ein ernstes Thema massentauglich aufzubereiten, sondern der zudem vergnüglich unterhält.

Eines Tages taucht in der noblen Grunewaldvilla eine alte Ukrainerin auf, die Joachim Vernaus Schwiegervater ein russisch verfasstes Schriftstück zur Unterschrift vorlegen will. Vernau, der die Fremde abfängt und so schnell wie möglich wieder vor die Tür setzt, ist schockiert, als er wenig später erfährt, dass die alte Frau ermordet im Landwehrkanal gefunden wurde. Dann überschlagen sich die Ereignisse, an deren Fortgang Vernau eher wenig aktiven Anteil trägt. Aus allen Richtungen tauchen Frauen in seinem Leben auf, die ihn zwingen, sich mit Dingen zu befassen, über die jahrzehntelang geschwiegen wurde. Die junge Ukrainerin Milla, die den Ahnungslosen eines Abends in seiner Wohnung überfällt und zusammenschlägt, behauptet, die Tochter einer gewissen Natalja zu sein, die während des Krieges das Kindermädchen von Vernaus Schwiegervater in spe war. Joachims längst verflossene Exfreundin Marie-Luise beginnt sich in den Fall einzumischen und auf eigene Faust zu recherchieren. Eine bildschöne Kunsthistorikerin macht ihm amouröse Avancen. Nicht zuletzt fordert Vernaus alte Mutter ihren Anteil an seinem Leben. Der arme Kerl, so allein unter Frauen.

Dieser raffinierte kleine Trick, sich eine männliche Hauptperson zu erfinden und diese dann einer Horde von Weibern auszuliefern, die die Handlung vorantreiben, zielt natürlich auf die primitiveren unter den feministischen Instinkten einer wohl überwiegend weiblichen Leserschaft. Doch sind die Ironiemarker so deutlich gesetzt, dass kein Mann sich bei der Lektüre ernsthaft verunglimpft fühlen muss.

Bei aller Humorigkeit hat dieser Krimi eine klare politische Botschaft und fußt auf gründlicher Recherche. Herrmann geißelt den gleichgültigen Umgang der deutschen Gesellschaft mit dem Schicksal der Sklavenarbeiterinnen, über das sie zwischendurch allerhand Wissenswertes einstreut, liefert nebenbei ein boshaftes Porträt der Berliner High Society ab – und ein stimmiges, liebevolles Porträt der Stadt Berlin auf vielen, sorgsam ausgewählten Schauplätzen. Es wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn Herrmann sich entschlösse, aus diesem Buch eine ganze Reihe von Berlinkrimis hervorsprießen zu lassen. Joachim und Marie-Luise könnten weiter „daran arbeiten, nicht allzu dicke Freunde zu werden“. Und dabei immer schön für die Gerechtigkeit auf Erden kämpfen.

KATHARINA GRANZIN

Elisabeth Herrmann: „Das Kindermädchen“. Rotbuch Verlag, Hamburg 2005. 430 Seiten, 19,90 Euro