clares straßen sind schmal von RALF SOTSCHECK:
Nachts um zwei sind alle Autos grau. Der Wagen, der mir auf der schmalen Landstraße in der westirischen Grafschaft Clare entgegenkam, hatte tatsächlich diese Farbe. Aber das bemerkte ich erst am nächsten Tag auf dem Schrottplatz.
Die Straße am Meer war schnurgerade. Ich war überzeugt, mühelos an dem Wagen vorbeizukommen, und das war die Fahrerin des anderen Autos auch. Wir irrten beide. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, mein rechtes Vorderrad war verschwunden, sodass der Wagen nach rechts zog und sich an eine Mauer schmiegte, hinter der es steil ins Meer ging. Das andere Auto hatte ebenfalls das rechte vordere Rad eingebüßt. Eine junge Französin stieg aus. Sie stellte sich artig als Yvonne Picard vor. Inzwischen waren ein paar Anwohner aus ihren Häusern gekommen. Einer fragte: „Wer hatte Schuld?“ Yvonne und ich zuckten mit den Schultern, einigten uns auf unentschieden und gaben uns die Hand.
Es wurde dann doch noch ein netter Abend. Wir warteten in Yvonnes Wrack zwei Stunden auf den Abschleppwagen, den die Anwohner angerufen hatten, und unterhielten uns über Gott und die Welt. Schade, dass ich sie „by accident“ kennen gelernt habe, kalauerte ich. Dann fiel mir der Wein ein: Klaus, ein deutscher Kollege, der in Irland Zuflucht vor seinen Gläubigern gesucht hatte, ließ sich seit einiger Zeit von einer Spedition Rotwein aus Deutschland bringen. Meistens merkte der irische Zoll nichts, und weil sich Klaus jedesmal unbändig über die gesparten Steuern freute, bestellte er sogleich eine neue Lieferung. Im Laufe der Zeit hatte er ein beeindruckendes Weinlager angehäuft, von dem er mir 24 Flaschen abgegeben hatte. Die hatten den Unfall im Kofferraum des Schrotthaufens unbeschädigt überstanden. Ein Gläschen Rotwein mit Yvonne vielleicht? Unsere Autos waren ohnehin nicht mehr fahrtüchtig, da mussten wir es auch nicht sein. Ich fand das aber doch zu dreist, und das war mein Glück.
Kurz darauf tauchte nämlich die Polizei auf. Wie viele Biere ich denn getrunken habe, wollte der Beamte wissen. „Allerhöchstens eins, wenn überhaupt“, antwortete ich. „Was denn“, meinte er, „du fährst nachts um zwei aus dem Pub nach Hause und hast nur ein Bier getrunken?“ Ich konnte das nur bestätigen, doch er zückte ein Röhrchen und reichte es mir mit dem Befehl: „Pusten!“ Aha, mein erster Alkoholtest in Irland in knapp 20 Jahren. Ich blies heftig in das Röhrchen und gab es ihm zurück. „Schade“, meinte er, nachdem er die Färbung inspiziert hatte, „das reicht ja nicht, um dich mit aufs Revier zu nehmen.“
Als ich am nächsten Tag den Wein auf dem Autofriedhof bergen wollte, sah mich der Besitzer verblüfft an. Er habe noch nie zwei Autos in einem solchen Zustand gesehen, wobei niemand ernsthaft verletzt worden war. „Ihr hattet Glück, dass ihr Autos mit Linkssteuer gefahren seid“, sagte er und zeigte auf die anderen 70 oder 80 Autos auf seinem Schrottplatz. Bei neun von zehn Wagen war der rechte Vorderreifen abgebrochen. „Clares Straßen sind schmal“, sagte er, „und nachts sind alle Autos grau.“
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