christoph schultheis : „Ein hinreißender Verriss“
Die so genannte „Netzeitung“ will ernst genommen werden und schmückt sich mit fremden Federn
Aus der Bild-Zeitung abschreiben kann jeder. Bild selbst macht ja oft genug vor, wie’s geht, wenn sie was abschreibt, was sie selbst nicht recherchiert bekam und trotzdem in der Zeitung haben will: Dann heißt es „heißt es in der FAZ“ oder „laut Sun“ und gut.
Auch die „Netzeitung“ – laut „Netzeitung“ „die erste deutsche Tageszeitung, die nur im Internet erscheint“ – weiß das. Die Online-Nachrichtensammlung hat sich zwar „klassische journalistische Qualitäten“ in den „redaktionellen Kodex“ geschrieben, aber Artikel aus der Bild ab- und „laut Bild dazuzuschreiben, ist für die „Journalisten der ‚Netzeitung‘ “ (O-Ton „Netzeitung“) Alltag. Irgendwo müssen die Nachrichten ja herkommen.
Chef, Chef und Chef der „Netzeitung“ ist Michael Maier. Aber kommen wir lieber zum Punkt: Am vergangenen Freitag stand im Berliner Tagesspiegel ein Text. Und weil der von Harald Martenstein geschrieben war, war er natürlich prima.
Andererseits sind prima Texte vergleichsweise selten, nicht nur im Tagesspiegel (selbst Martenstein schrieb schon bessere – z. B. tags zuvor in der Zeit).
Am vergangenen Freitag aber, als im Tagesspiegel besagter Martenstein-Text erschien (Thema: die „neue, seltsame Kulturzeitschrift“ Der Freund, aber das nur nebenbei), standen plötzlich auch in der „Netzeitung“ lauter prima Sätze. Denn unter der Überschrift: „Ein hinreißender Verriss“ – Unterzeile: „Harald Martenstein zerlegt in einem brillanten Text ein seltsames neues Print-Produkt“ – hatte die „Netzeitung“ Martensteins Text „auszugsweise“ dokumentiert, wie es hieß. Man könnte auch sagen, sie hatten ihn rüberkopiert und gelegentlich mit Sätzen unterbrochen wie: „Anschließend widmet sich Martenstein der Präsentation der neuen Zeitschrift“; „auch Martensteins Rezension des Inhalts ist sehr aufschlussreich. Er schreibt:“ und „Martensteins Fazit:“
Fazit: Bislang war’s so, dass irrelevantere Medien im Bedarfsfall bei relevanteren um „Nachdruck“ eines Textes ersuchen und dafür ein wenig Geld bezahlen. Die „Netzeitung“ schrieb stattdessen: „Allen Berlinern wird daher empfohlen: Kauft heute (Freitag) Martenstein im Tagesspiegel.“
Erlaubt ist das. Aber auch ein bisschen ungehörig. Oder sehr. Zumal im Internet, wo der liebe Gott für solche Fälle doch extra den „Link“ erfunden hat, der interessierte Leser mit einem Mausklick mühelos zum Online-Angebot des Tagesspiegel schicken könnte, wo Martensteins Text selbstverständlich ebenfalls nachzulesen war und ist. Aber so ein Link sähe dann natürlich nicht mal mehr aus wie Journalismus.