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Archiv-Artikel

cannes cannes (6) „Il Caimano“, Nanni Morettis entlarvender Wettbewerbsbeitrag über Berlusconi

Cristina Nord ist an der Croisette und schaut zu, wie illusionslos Moretti dem Unterhaltungs-TV gegenübersteht

„Die Linke hat Berlusconi unterschätzt“, sagt Nanni Moretti. „Sie hat seine folkloristische Seite gesehen und jede Menge Witze über ihn gemacht. Doch sie war sich der Gefahr, die von ihm ausging, nicht bewusst.“ Bei der Pressekonferenz zu Morettis Wettbewerbsbeitrag „Il Caimano“ („Der Kaiman“) findet der italienische Regisseur entschiedene Worte, egal ob er vom Zustand der Linken in seinem Land, von der Medienmacht Silvio Berlusconis oder von der Aufgabe des Kinos spricht. Dass Berlusconi die Wahlniederlage nicht habe eingestehen wollen, sei „etwas sehr Ernstes“. Denn es „untergräbt die Legitimität der Wahlen und damit die Grundlage der Demokratie“. Dass er als Politiker über drei Fernsehsender und zahlreiche Zeitungen verfüge, sei ein gewaltiges Problem. „Es ist, als würde ein Sportler bei den Olympischen Spielen zum 100-Meter-Rennen mit 50 Meter Vorsprung antreten. Und wenn er wegen eines Sekundenbruchteils verliert, kann er dies noch nicht einmal einsehen.“ Das Schlimmste aber sei, dass in Italien niemand mehr Anstoß daran nehme. „Wir haben uns an die Situation gewöhnt.“

Aus dem Ausland betrachtet, verschiebt sich die Perspektive, und Berlusconis Auftreten hinterlässt vor allem einen Eindruck: den maßloser Dreistigkeit. Moretti greift dies in „Il Caimano“ auf, indem er Originalaufnahmen von jener Sitzung des Europarats einblendet, bei der Berlusconi dem deutschen Abgeordneten Martin Schultz nahe legt, die Rolle des Kapos in einem KZ-Film zu spielen. Als der italienische Ministerpräsident dazu aufgefordert wird, die Bemerkung zurückzunehmen, beharrt er darauf – und sagt zugleich, sie sei doch nur ironisch gemeint gewesen. Diese Rhetorik ist hässlich, aber sie ist effektiv, weil sie hermetisch ist: Wer immer Berlusconi kritisiert, den bezichtigt er des Totalitarismus. Wenn sich der Angegriffene dies verbittet, heißt es: „Es war Ironie.“ Ein römischer Bekannter hat diese Rhetorik kürzlich treffend als „Bullshitting“ bezeichnet: Berlusconi und seine Gefolgsleute reden Blödsinn, sie ergehen sich in homophoben und rassistischen Ausfällen, sie greifen ihre Gegner auf rüde, unflätige Weise an und ziehen sich im selben Atemzug auf die Position zurück, dass alles nur ein Witz sei. Wer ihnen nicht folgen will, der hat in dieser Logik erstens keinen Sinn für Humor und lässt zweitens einen Zensor in sich nisten.

„Il Caimano“ stellt diesen Mechanismus auf einleuchtende Weise bloß. Vielleicht ein wenig zu einleuchtend – denn Moretti läuft Gefahr, allzu großer Selbstgewissheit zu verfallen, da er von einer politischen Situation erzählt, die so etwas wie die „richtige Seite“ tatsächlich kennt. Möglicherweise aber besteht diese Gefahr nur während der Pressekonferenz. Denn niemand ist im Saal, der sich für Berlusconi ausspräche, niemand, dem die Einblendung der Originalaufnahmen aus dem Europarat nicht wie ein Spuk erschienen wäre, niemand, der sich nicht über die Abwahl gefreut hätte. Nolens volens findet sich der Regisseur in einer Situation, in der er zu den Bekehrten predigt. Unangenehm scheint es ihm nicht zu sein.

In „Il Caimano“ schränkt er diesen Nebeneffekt ein, indem er seine Kritik an Berlusconi in eine Film-im-Film-Struktur einbettet. So sind von Anfang an recht viele Ebenen in den Film eingezogen, zu viele, als dass er je den Charakter eines Pamphlets annähme. Ein Produzent von B-Filmen, Bruno (Silvio Orlando), und eine junge Regisseurin, Teresa (Jasmine Trinca), begegnen einander. Bruno drehte früher Filme mit Titeln wie „Maciste versus Freud“ oder „Mocassin Assassins“; seine letzte Produktion liegt zehn Jahre zurück. Seine Ehe ist kaputt, seiner Bank schuldet er viel Geld. Warum er sein jüngstes Projekt, „Die Rückkehr des Christopher Kolumbus“, aufgibt und sich auf Teresas Drehbuch „Il Caimano“ einlässt? Aus einem Missverständnis heraus. Als er es begreift, dass sich „Il Caimano“ um Berlusconi dreht, stöhnt er: „Aber ich habe ihn doch selbst gewählt!“

In einer schönen Szene fährt Bruno durch das nächtliche Rom. An seiner Seite wird er des Schiffes gewahr, das in „Die Rückkehr des Christopher Kolumbus“ zum Einsatz kommen sollte. Bruno wollte ein Modellboot benutzen, nun fährt La Niña in Originalgröße durch Rom. Ein anderer wird den Film produzieren und den Erfolg davontragen. Schon in einer vorangegangen Szene lässt Moretti erahnen, wie illusionslos er der Übermacht der Unterhaltungsindustrie gegenübersteht; zugleich schlägt er einen selbstironischen Haken: Bruno erzählt seinen beiden Söhnen Gutenachtgeschichten. Er schildert eine Episode aus Teresas Drehbuch. Es geht um Schwarzgeld, um Mittelsmänner, um Schweizer Konten. Die Kinder gähnen. Als Bruno zu den Plots seiner B-Movies wechselt, hellen sich ihre Gesichter auf. CRISTINA NORD