bücher aus den charts : Signalverkehr
John Griesemers Roman „Rausch“ erzählt eine Geschichte, deren Ausgang bekannt ist: Die Verlegung des ersten transatlantischen Telegrafenkabels irgendwann im 19. Jahrhundert wurde erfolgreich abgeschlossen. Allerdings kann man durchaus mit Geschichten Spannung erzeugen, deren Ende von Anfang an feststeht – man denke nur an die „Titanic“. Die Frage ist, wie solche Geschichten erzählt werden und welches Potenzial zur Mythenbildung sie haben. Beides ist bei Griesemer eng miteinander verknüpft. Die Antwort auf die erste Frage liefert der Roman selbst, wenn er seine eigene Ästhetik mittels der Beschreibung des so genannten Phantasmagoriums skizziert, mit dem die Kabellegertruppe auf Promotiontour geht, um Geld für ihr Projekt einzuwerben. Eine gewaltige Bühnenmaschinerie stellt dabei die Sternstunden des Unternehmens in beweglichen Bildern vor: „Die Tableaus werden entrollt, die Musik wechselt von schicksalhaftem Pochen zu stolzen Märschen und erhabenen Rhapsodien, das Licht verändert sich bei jeder Szene in Farbe und Intensität.“
So in etwa liest sich auch Griesemers Roman: In raschem Wechsel geht es um hochfliegende Technikträume und spirituelle Sehnsüchte, um Schiffe im Sturm und Männer in der Schlacht, um Pianistinnen, Schauspielerinnen und Prostituierte, um Indianer und Schamanen, Karl Marx und Abraham Lincoln. Ein satt orchestriertes, bunt koloriertes Panorama.
Auch bei der Antwort auf die Frage nach der Mythentauglichkeit seines Stoffs lässt Griesemer sich nicht lumpen: Sein Roman unternimmt nichts Geringeres als die Darstellung des Aufbruchs ins Informationszeitalter. Mit dem Kabel zwischen Irland und Neufundland rücken nicht nur zwei Kontinente enger zusammen, sondern die Welt insgesamt wird in dem Maße kleiner, in dem die Kommunikation schneller wird. Und so versäumt es der Autor auch nicht, von der Kabelverlegung damals einen großen Bogen zu schlagen zu den Möglichkeiten des Informationsaustauschs heute: Seine Kabelleger sind Visionäre, die als solche auch schon mal von einem Code träumen dürfen, der es ermöglichen würde, sogar Bilder durchs Kabel zu schicken.
Die Verdichtung der technikgeschichtlichen Kabelepisode zum großen Epos gelingt Griesemer nicht zuletzt dank seiner – zum Teil fiktiven, zum Teil historischen – Charaktere, die alle eine bestimmte Idee verkörpern. Im Mittelpunkt steht der Ingenieur Chester Ludlow, der in seiner Begeisterung für das Kabelprojekt und die schöne Österreicherin Katerina Lindt den willkommenen Anlass findet, seiner Ehe, die vom Tod der kleinen Tochter Betty überschattet ist, den Rücken zu kehren. Franny Ludlow, seine Frau, unternimmt parallel zu dem großen Kommunikationsprojekt ihres Mannes ebenfalls eines, das auf den ersten Blick sehr viel besser zu funktionieren scheint: Ihr geht es, assistiert von Chesters Bruder Otis, um die spirituelle Kontaktaufnahme zu ihrer toten Tochter.
Wenn man Griesemers Lösung für das Problem der Geschichte, deren Ende alle kennen, trotzdem mit gemischten Gefühlen begegnet, dann liegt das daran, dass sein Roman zu viel will. Er will Sittengemälde einer Zeit sein, Liebesgeschichte und Familienepos, prophetische Vorausschau und dramatische Zuspitzung. Zu guter Letzt produziert er dabei zu viel Rauschen, als dass man seine Signale noch verstehen könnte. ANNE KRAUME
John Griesemer: „Rauschen“. Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke. Marebuch-Verlag, Hamburg 2003, 700 Seiten, 24,90 Euro